Das „Risorgimento“ in Wikipedia: Kleiner Praxis-Bericht

Eine kleine Veranschaulichung, wie und unter welchen Bedingungen Wikipedia nicht nur als Nachschlage-Werk hilfreich sein kann, sondern sogar zu neuen Einsichten und Erkenntnissen führen kann: Ich suchte für die Vorbereitung einer Sitzung nach Grundlagen-Material zur italienischen Geschichte des 19. Jahrunderts, konkreter zum Risorgimento. Ich wollte in meinem Kurs, der angehende Sekundar-Lehrer/innen in die Geschichte des 19. Jahrhunderts einführen soll, anhand des Filmes „Il Gattopardo“ ((Der Wikipedia-Artikel bietet leider nur sehr wenig Informationen zu diesem Klassiker, hier muss man sich an die einschlägige Film-Handbuch-Literatur halten: Schneider, Steven Jay: 1001 Filme. Die besten Filme aller Zeiten, Zürich 2005, S. 422 – Lexikon des internationalen Films, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 2208 – Kruschke, Dieter: Reclams Filmführer, Stuttgart 1996, S. 245.)) Veränderungen des politischen Systems im Rahmen der Nationalstaatenbildung erläutern. Im Zentrum standen die politischen Umwälzungen in Sizilien, die im Roman von Tomasi di Lampedusa so eindrücklich geschildert werden.

Die passende Handbuch-Literatur war schnell gefunden und zur Abgabe im Kurs aufbereitet. ((Altgeld, Wolfgang (Hg.): Kleine italienische Geschichte, Stuttgart: Philipp Reclam 2002.
Davis, John A: Italy in the nineteenth century 1796-1900, Oxford: Oxford University Press 2000.
Reinhardt, Volker: Geschichte Italiens: von der Spätantike bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck 2003.
Ausserdem: „Italien“, in: Fisch, Jörg: Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850-1914 (Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 8), Stuttgart 2002, S. 178-192.)) Da die Studierenden sich vornehmlich in Wikipedia informieren (und ich während des Kurses zu zeigen versuche, warum Wikipedia im Vergleich mit wissenschaftlicher Literatur nicht ausreicht), sah ich mir die entsprechenden Einträge bei Wikipedia etwas genauer an: insbesondere die Lemmata „Risorgimento“ und „Zug der Tausend„.

Einen eingehenden Vergleich mit den einschlägigen Wikipedia-Artikeln war mir aus zeitlichen Gründen nicht möglich – mir fielen jedoch keine gravierenden Fehler in der Wikipedia-Artikeln auf, die vollständig, aber etwas kurzatmig wirkten. Immerhin zählt der Artikel „Risorgimento“ zu den exzellenten Wikipedia-Artikeln und führt die wichtigste Literatur (hier sind Altgeld oder Fisch ausführlicher) aber auch interessante Weblinks (etwa zum Risorgimento-Portal bei historicum.net) auf.

Interessehalber klickte ich auf die italienische Versionen der Artikel ((Spedizione dei Mille und Risorgimento; die Darstellung dreht sich vor allem um Thesen des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci)), die sich erwartungsgemäss weitaus ausführlicher präsentieren, darüber hinaus (wie übrigens auch die englische ((Expedition of the Thousand; hier wird vor allem auf die Darstellung von Denis Mack Smith Bezug genommen.)) Version) aber auch Angaben zu Historiographie bzw. zu den unterschiedlichen Deutungsansätzen der italienischen Einigung im Allgemeinen, und dem Handstreich Garibaldis in Sizilien und Süditalien im Speziellen anführen. Diese Hinweise fand ich in den einschlägigen deutschsprachigen Handbuch-Artikeln nicht, ebensowenig im Wikipedia-Artikel – ich stiess lediglich via Wikipedia auf die umfassende, im Netz verfügbare (und vom Wikipedia-Artikel aus verlinkte) Einführung von Werner Daum ((Daum, Werner: Das italienische Risorgimento 1796-1915. Eine Einführung, in: http://www.risorgimento.info/einfuehrung.htm, Erstanlage 15.08.2003, Stand 21.05.2006, Abruf 18.5.2008)), die ausführlich auf den Meridionalismo hinweist.

Eindrücklich ist der Blick hinter die Kulissen, was ich allerdings nur beim Artikel „Risorgimento“ in der deutschsprachigen Wikipedia gemacht habe: Diesen Artikel verantwortet zu einem grossen Teil der Benutzer Ulitz. Dieser hat sich (wie seine Benutzer-Seite zeigt) mittlerweile aus der aktiven Wikipedia-Arbeit mehr oder minder zurückgezogen, weil er von der rechten Unterwanderung der Wikipedia die Nase voll hat. Hier gelangt man ziemlich direkt in eine schwer durchschaubare und in der Diskussion um Wikipedia fast gänzlich ignorierte Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie die „Objektivität“ in einem offenen System, das nicht von Fachleuten kontrolliert wird, zu einem Politikum werden kann. Wir haben hier auch schon darüber berichtet.

Wer davon nicht genug hat, kann auf der Diskussions-Seite des Artikels einen Einblick gewinnen, wie darüber verhandelt und entschieden wird, wie der Artikel in die Gruppe der exzellenten Artikel aufgenommen wurde. Fairerweise ist zu bedenken, dass viele Entscheidungsprozesse von Jurys, bei welchen Fachleute mitwirken, mit gutem Grund nicht öffentlich gemacht werden.

Nun, was ziehe ich aus diesem kleinen Praxis-Bericht für Schlüsse?

  1. Auch wenn die Wikipedia-Inhalte mit der einschlägigen Literatur übereinstimmen: Ich bevorzuge die Handbuch-Literatur, weil sie besser, lesbarer geschrieben ist.
  2. Anders als Handbuch-Literatur bietet Wikipedia Verbindungen zu Inhalten auf dem Netz.
  3. Sprachversionen-Wechsel können zu interessanten Erkenntnissen führen – das ist bei Handbuch-Literatur schwieriger zu bewerkstelligen (aber prinzipiell genauso möglich).
  4. Wikipedia-Artikel können auch historiographische Informationen zu einem bestimmten, umstrittenen enthalten. Dafür müssten sich aber wohl Personen mit Fachkenntnissen einschalten. Dank Hypertext sind verschachtelte Verweise möglich. Das ist dann aber auch gerne der Lesbarkeit abträglich (siehe Punkt 1)
  5. Gute Wikipedia-Artikel sind oft deshalb gut, weil sich einige wenige Autor/innen dafür verantwortlich fühlen.
  6. Man vergisst immer wieder gerne, dass es sich bei Wikipedia um ein offenes System handelt, das anfällig ist für spezifische Formen der Manipulation. Aber es ist halt so praktisch.

Sind diese Erkenntnisse neu? Nein. Sie bestätigen die Ambivalenz des Projekts Wikipedia, zu dem wir mehrfach uns schon geäussert haben, in einem konkreten Einzelfall.

Bild-Legende: Ausschnitt aus dem Gemälde „La Partenza da Quarto“ von 1860, Maler unbekannt. Darauf ist Garibaldi zu sehen, wie er mit seinem Gefolge bei Quarto in der Nähe von Genua nach Sizilien aufbricht.

Ein Gedanke zu „Das „Risorgimento“ in Wikipedia: Kleiner Praxis-Bericht“

  1. Ich will mich hier jetzt nicht wie eine Rampensau benehmen, aber ich habe vor ein paar Monaten einen kurzen Essay über Wikipedia und den internen Diskurs geschrieben. Vielleicht interessiert es ja zum Thema. http://www.lwg.uni-hannover.de/wiki/Webzwonull
    Ansonsten sorry für den Spam.

    Es ist jedenfalls festzustellen, dass die Entscheidungsprozesse in Wikipedia sehr auf Sozialem Kapital beruhen und nicht nur auf Vernunft (sine ira et studio)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert