Es war mein erstes «richtiges» Geschichtsbuch und es war eine wunderbare Verwechslung. Und der Beginn einer innigen Beziehung zu einer ganz bestimmten Art der Geschichtsschreibung:
Ich wollte mich vor meinem Geschichtsstudium ein wenig in die Materie einlesen und in einem Buchprospekt entdeckte ich ein Büchlein mit dem Titel «Die Welt des Mittelalters». Ich bestellte das Buch und merkte zu spät, dass ich mich verlesen hatte: Das Bändchen hiess «Die Welt des Mittelmeeres».
Die Lektüre war eine Offenbarung. Es waren nicht nur die Themen, die so neuartig und faszinierend waren, es war vor allem der Stil dieser Aufsätze, der mich begeisterte.
Da war nichts von der trockenen Faktenhuberei meines Schulbuches, mit dem mir das Fach Geschichte im Gymnasium vermiest worden war. Nichts vom synthetischen Blick auf die Vergangenheit, mit dem mich ein unmotivierter Geschichtslehrer jahrelang gelangweilt hatte.
Fernand Braudel begann seinen Text «Mediterrane Welt» mit folgenden Worten:
In diesem Buch fahren Schiffe übers Meer; die Wellen nehmen ihren Gesang auf; Weinbauern an der genuesischen Riviera gehen die abendlichen Hügel hinab; in der Provence und in Griechenland werden die Früchte von den Ölbäumen geschlagen; Fischer legen ihre Netze in der stillen Lagune von Venedig oder auf den Kanälen von Dscherba aus; Schiffbauer zimmern Kähne, die gleichen heute wie gestern … Und noch einmal sind wir, wenn wir ihnen zuschauen, aus der Zeit.»
Jedesmal, wenn ich das Buch später wieder in die Hand nahm, war auch ich wieder «aus der Zeit». Und als ich kürzlich den Text wieder las, fragte ich mich, wie Braudel diesen Einstieg heute formulieren würde? Vielleicht so:
Auf dieser Website fahren Schiffe übers Meer; die Wellen nehmen ihren Gesang auf; Weinbauern an der genuesischen Riviera gehen die abendlichen Hügel hinab …
Und wenn er dies schriebe: Würde das Medium nicht danach verlangen, die Schiffe, die über das Meer fahren, auch abzubilden, womöglich in Form eines kleinen Videos? Und müssten wir vielleicht auch den Gesang der Wellen als Hintergrundmusik einblenden?
Ja, ein tolles Buch, und dazu noch so schön kurz. Ich glaube, das Medium Internet verlangt nicht per se nach „Multimedia“ – für unnötig Verspieltes gibt es ja zurecht den Begriff „Klickibunti“. Braudels Text funktioniert eigentlich nur ohne Bebilderung oder Vertonung so gut: der Witz daran ist ja, dass das, was er da beschreibt, genausogut vor 2000 Jahren wie vorgestern passiert sein kann an diesem Mittelmeer, das er wohl auch deshalb so liebt. Wo sonst hätte die Idee von der „longue durée“ entstehen können? Ein Video setzt da gleich viel zu genaue Vorstellungen einer bestimmten Zeit in Gang. Und die unheilschwangere Geräuschkulisse, die BBC oder ZDF (Terra X) über alles ausschütten, das älter als 50 Jahre ist, würde zumindest mich sofort zum Abschalten bzw. Wegklicken veranlassen…
Das denke ich auch. Und ich denke oder wünschte sehr, Braudel hätte auf Bild- und Geräuschkulisse verzichtet. Die Schiffe brauchen das Leer zwischen Zeilen und Seiten, anders geht fahren nicht.