Historische Lehrbücher haben ebenso wie Überblicksdarstellungen einen schweren Stand auf dem Markt der wissenschaftlichen Publikationen. Weder mit der einen noch mit der anderen Textsorte lassen sich im Feld der professionellen Geschichtsschreibung besonders viele Meriten verdienen. Immer noch haftet dieser Textgattung scheinbar der Makel an, keine „richtige“ Forschungsleistung zu sein und mehr den Fleiss der Autoren widerzuspiegeln als Ausdruck ihres wissenschaftlichen Könnens zu sein.
Das bedeutet indes nicht, dass diese Bücher nicht gekauft und geschätzt würden. Eine vor einigen Jahren durchgeführte Umfrage bei Studierenden der Geschichtswissenschaft ergab, dass Verlage, die speziell in diesen Bereichen aktiv sind, hohes Ansehen geniessen. Ganz anders die Wahrnehmung der Ordinarien, die ihren Namen lieber in den spezialisierten Verlagen gedruckt sehen möchten. Bekannt ist aber auch, dass es sich hier um ein Spezifikum des deutschen Sprachraumes handelt und dass in Frankreich ebenso wie im angelsächsischen Raum historische Überblicksdarstellungen in Fachkreisen durchaus wohlgelitten sind.
Zwei Entwicklungen könnten diesem Zustand jedoch auch hierzulande ein Ende setzen, weshalb es gerechtfertigt erscheint, dass bei der diesjährigen Auslobung für «Das Historischen Buch» erstmalig eine Kategorie «Lehrbücher / Überblicksdarstellungen» aufgenommen wurde.
Zum einen zeitigt der Bologna-konforme Umbau der geschichtswissenschaftlichen Studiengänge an den deutschsprachigen Universitäten bereits Konsequenzen auf dem Büchermarkt. Einzelne Verlage haben begonnen, Titel aus ihrem Sortiment mit dem Label «Bachelor-tauglich» zu versehen und gezielt zu bewerben. UTB zum Beispiel hat eine «Bachelor-Bibliothek» lanciert, welche den Studierenden sichere Orientierung und effiziente Lektüre verspricht. Für den Einstieg ins BA-Studium scheint nicht mehr das Exemplarische, sondern das gefestigte Wissen gefragt zu sein. Zum anderen hat der mediale Umbruch der letzten Jahre dazu beigetragen, dass die Grenzen zwischen fachinternem Diskurs und öffentlichen Debatten über Geschichte sich aufgeweicht haben. In den unstrukturierten Trefferlisten der Internet-Suchmaschinen wächst zusammen, was nicht immer zusammen passt.
Auch die Bücher, die von der Jury «Das Historische Buch 2008» von H-Soz-u-Kult in der Kategorie «Lehrbücher / Überblicksdarstellungen» auf die ersten zehn Plätze gewählt wurden, passen auf den ersten Blick nicht so recht zusammen. Die thematische Spannweite reicht von der Sozialgeschichte der Bundesrepublik von Axel Schildt über eine Kulturgeschichte des Klimas (Wolfgang Behringer) bis zu einem von Paul Gerhard herausgegebenen Studienbuch zur Visual History sowie einem acht Jahrhunderte umfassenden Überblick zur Geschichte Chinas aus der Feder von Sabine Dabringhaus.
Doch es gibt Gemeinsamkeiten, die nicht unwesentlich sind: Alle Bücher beanspruchen, ein Thema zwar nicht erschöpfend, aber doch umfassend darzustellen. Sie richten sich an ein Publikum, das bereit ist, sich durch einen wissenschaftlichen Text durchzuarbeiten, das aber nicht bereit ist, sich durch ein Gestrüpp von Fussnoten und Nebenschauplätzen zu kämpfen, um den Kern des Textes erfassen zu können. Es sind Bücher, die sich nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Form und die Vermittlung bemühen, Texte also, die man auch lesen kann, wenn man sie nicht lesen muss.
Axel Schildt etwa gelingt dies in «Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90» musterhaft. Der Umstand, dass sein Buch Teil der «Enzyklopädie Deutscher Geschichte» des Oldenbourg Verlages ist, gab dem Buch ein enges Korsett: Im ersten, rund sechzig Seiten umfassenden enzyklopädischen Teil, breitet Schildt das Thema aus, im nur noch etwa halb so langen zweiten Teil skizziert er die Grundprobleme und Tendenzen der Forschung. Das Verblüffende bei der Lektüre dieses Buches ist, dass Schildt eine Darstellungsform entwickelt hat, mit der er eine hohe Informationsdichte sprachlich derart sorgfältig aufbereitet, dass sich der Text nicht nur gut liest, sondern dass der Text die Themen und Entwicklungen, die er beschreibt, plastisch aufscheinen und die Entwicklungen nachvollziehbar werden lässt. Ein Blick in die dreißig Seiten umfassende Literaturliste zeigt zudem, dass hinter dem kurzen Text sorgfältige Recherchen und eine immense Kärrnerarbeit stecken.
Wolfgang Behringer unternimmt mit seiner «Kulturgeschichte des Klimas» den – gelungenen – Versuch, das vergleichsweise neue Feld der Umweltgeschichte überblicksartig darzustellen und gleichzeitig eigene methodische Erweiterungen zum Thema beizutragen. Mit der Verknüpfung des historischen Teiles mit der aktuellen Klimadebatte zeigt er zugleich, dass Geschichtsschreibung nicht eine rückwärtsgewandte, weltfremde Beschäftigung ist, sondern dass historische Kenntnisse sowohl alltagsrelevante als auch politische Orientierung vermitteln können.
Das schmale Bändchen «Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart» von Wolfgang Reinhard ist ein Beispiel dafür, wie historisches Wissen in verständlicher Form präsentiert einem Publikum auch außerhalb der Universitäten vermittelt werden kann, ohne deswegen weniger originär sein zu müssen. Im Kontext aktueller weltpolitischer Entwicklungen ist die von Reinhard eingangs formulierte Aussage, Europa habe den Staat erfunden, eine Provokation und eine Einladung zum Weiterlesen zugleich. Auf 128 Seiten und hohem Niveau ein Tour d’Horizon zur Frage der Staatenwerdung zu präsentieren, so dass der Band aus der Reihe «C. H. Beck Wissen» auch mit dem Bahnhofsbuchhandel kompatibel ist, zeigt eine Fähigkeit, die im deutschen Sprachraum nicht viele Historikerinnen und Historiker beherrschen.
Die Auswahl der Bücher in dieser Kategorie zeigt, dass das heterogene Feld der Übersichtsdarstellungen sich gegenwärtig einer grossen Dynamik erfreut. Sie zeigt auch, dass die klassischen Lehrbücher im Vergleich zu den Überblicksdarstellungen einen noch schwierigeren Stand haben und noch nicht richtig Fuß fassen konnten in der hiesigen Publikationskultur (und vielleicht auch nicht Fuss fassen werden). Und sie zeigt, last but not least, dass der Führungsanspruch der Kulturgeschichte auf innovatives Potential im Feld der Historiographie am bröckeln ist.
In diesem Zusammenhang ist vielleicht besonders bemerkenswert, dass sich das anspruchsvolle und auf hohem Niveau argumentierende Buch «Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft», herausgegeben von Jan Eckel und Thomas Etzemüller, zwar keinen der vorderen fünf Plätze erobern konnte, sich in der Liste dieser Kategorie jedoch erfolgreich hat halten können. «’Das Machen von Geschichte’ ist eine Praxis» hat Michel de Certeau einmal gesagt. Dass sich diese Praxis heute wieder mehr verändert, als noch vor einigen Jahren, zeigt die neue Kategorie «Lehrbücher / Überblicksdarstellungen» auf eindrückliche Art.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf H-Soz-u-Kult im Rahmen von «Das Historische Buch 2008».