HOK: Lesen – Vom Suchen und Finden V: Serendipity (einmal anders)

Serendipity? Ein Prinzip, benannt nach einer indischen Geschichte aus dem 13. Jahrhundert über den (fiktiven) König von Serendip, der seine drei Söhne nach erstklassiger Ausbildung in die Welt schickte, um ihre Bildung zu vervollkommnen. Auf der Reise entdecken sie am Wegesrand Dinge, die sie nicht gesucht haben, vermögen diese Eindrücke aber in sinnvoller Weise miteinander zu verbinden und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Die Geschichte wurde von Horace Walpole im 18. Jahrhundert nach England und damit nach Europa gebracht, der auch den Kunstbegriff Serendipity prägte. Er bedeutet eine Entdeckung oder eine Erkenntnis, zu der man durch Zufall oder Glück gelangt. Als Paradebeispiel wird immer wieder die Entdeckung des Penizillins oder der Post-It-Notizzettel herangezogen.

Auch für die Nutzung des Internets wird Serendipity als Konzept angewandt: als Synonym für „Surfen“ und als Gegenstück zum Begriff „Lost in Hyperspace“. Danach ist das ziel- und orientierungslose Herumklicken im Internet nicht unbedingt Zeitverschwendung und Überforderung, sondern kann auch zu unerwarteten Erkenntnissen führen (vgl. dazu auch Krameritsch, Jakob: „Geschichte(n) im Hypertext“). Das Unerwartete kann man in Google nicht suchen, aber durchaus dort finden.

Dies ist auch gleich die Überleitung zum Anlass dieses Eintrags: ein Artikel von Peter Sennhauser in der aktuellsten Weltwoche über einen freien Tag, dessen Planung, Durchführung und Verarbeitung dank Google-Technologie zum Erfolg wird (leider nicht frei zugänglich, daher hier eine Kurzzusammenfassung): Wetterbericht, Mail, Suche nach interessanten Ausflugzielen, Karte mit Wegbeschreibung aufrufen, unterwegs nach Tankstellen suchen, anschliessend Videos und Bücher durchstöbern, um sich über Surfen (! – allerdings im Sinne von Wellenreiten auf dem Offline-Meer) kundig zu machen. Ich machte mir den Spass, mir den gleichen Tag in einer Google-freien Welt vorzustellen: Aus dem Fenster schauen, auf der alten Landkarte nach interessanten Plätzen suchen, den Kollegen anrufen und nach dem Geheimtipp fragen, von dem er letzthin geschwärmt hatte, sich mit dem Kollegen zu einem gemeinsamen Ausflug verabreden, viel zu spät losfahren, verzweifelt eine Tankstelle suchen, riesigen Umwege fahren, auf dem Rückweg zum ursprünglich angepeilten Ausflugziel in einer Kneipe landen, dort eine hübsche Frau kennenlernen, die ein Buch liest, den Titel notieren und am nächsten Tag, nach einem Kinobesuch am abend (ohne hübsche Frau), das Buch in einer Buchhandlung bestellen, das Buch lesen, und beim Lesen einen genialen Einfall für ein Problem bei einem Projekt haben. Serendipity – etwas anders.

Update: Man kann auch andere, historisch verbriefte Serendipity-Such/Find-Beispiele anführen. Zufällig (Serendipity) bin ich über ein ausgezeichnetes Radio-Feature des Deutschlandfunks zu Alfred Wegener, dem „Erfinder“ der Plattentektonik (und damit auch der Kontinentaldrift, also dem Auseinandertreiben der Kontinente), gestossen. Das Feature schildert nicht nur die Ablehnung, die dem Meteorologen und Polarforscher von seiten der etablierten Geologie entgegenschulg, sondern auch den Moment, als Wegener auf die Idee dieser neuen Theorie kam: „Alfred Wegener stösst in der Marburger Universitätsbibliothek zufällig auf einen Aufsatz, der Fossilien auflistet, die beiderseits des Atlantiks – in Südamerika und in Afrika – identisch sind. Endlose Stunden verbringt er in der Bibliothek, sucht nach ähnlichen Aufsätzen.“ Diese Art des Erkenntnisgewinns und des Nachforschens auf eine Eingebung hin wirkt auch heute, im Zeitalter der Internet-Recherche, sehr aktuell.

Literatur:
Krameritsch, Jakob: „Geschichte(n) im Hypertext. Von Prinzen, DJs und Dramaturgen“, in: Haber, Peter, Epple, Angelika (Hg.): Vom Nutzen und Nachteil des Internet für die historische Erkenntnis. Version 1.0, Zürich: Chronos 2005 (Geschichte und Informatik, Vol. 15/2004), S. 33-56

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