HOK Lesen/Schreiben: Plagiate – oder: vom Abschreiben zum Fotokopieren zum Copy/Paste

Der bekannte Wikipedia-Kritiker Daniel Brandt (von wikipedia.watch) kommt in einer selbst durchgeführten Studie zum Schluss, dass mindestens 1% der Artikel in der englischen Wikipedia Plagiate enthalten (via Wikimetrics). Brandts Vorgehen klingt zwar plausibel, ist aber nur schwer nachzuvollziehen. Einerseits sind die Original-Daten (offenbar eine Liste von Biographien von Menschen, die vor 1890 lebten) nicht offengelegt. Auch die Ergebnisse seiner Auswertungen, die Sätze aus den Artikeln, mit welchen er ein Plagiat zu identifizieren sucht, ja noch nicht einmal die 142 Artikel, die aus seinem Sample von 16750 Artikeln als mit Plagiaten versehen identifizierte, sind zugänglich. So bleibt die Aussagekraft dieser Untersuchung unklar.

Schade, denn das Problem mit Plagiaten interessiert in der Bildungsszene (in Schulen und Universitäten) brennend, wenngleich auch eher umgekehrt – nämlich da, wo aus Wikipedia abgeschrieben wird. Die Lage ist gerade bei Wikipedia noch etwas komplizierter, weil dort das Kopieren von Inhalten explizit erlaubt ist – als Ausdruck eines „freien“, nicht durch Urheberrechte geknebelten Wissens (hier passt der Link zur OpenAccess-Debatte). Doch beim Problem des Plagiats geht es weniger um Urheberrechtsfragen als um das Konzept wissenschaftlicher Redlichkeit, wonach fremde Leistungen nicht als eigene ausgegeben werden dürfen.

Hier wird dann gerne von Seiten der Lehrenden das mangelnde Verständnis der Schüler, Schülerinnen und Studierenden (=Lernende) für dieses Prinzip angemahnt, bzw. ein fehlendes Unrechtsbewusstsein beklagt.

Aber vielleicht gibt es auch eine andere Sichtweise, die stärker von den Effizienz-Potentialen medialer Praktiken (bzw. dem Bequemlichkeitspotential der Lernenden) ausgeht. Hier meine These. Das Prinzip der wissenschaftlichen Lauterkeit wird von Lernenden nicht verstanden, weil sie die ihnen gestellten Aufgaben einfach nur sehen als „Zusammentragen und Reproduzieren von Informationen, die andere Personen geschrieben haben“. Ob man das in eigene Worte fasst oder nicht – es ist ohnehin eine Reproduktion von Gedanken eines Anderen, da ist „Copy/Paste“ viel effizienter. Die gesparte intellektuelle Energie wird dann in die Produktion eigener Outputs investiert. Im Idealfall in die zusammenfassende Auswertung, vielleicht aber auch in das nächste Level des neuen XBox-Games oder in eine Viertel-Stunde Online-Chat.

Man könnte die „Copy/Paste-Seuche“ auch als Fortsetzung der Verdrängung von Exzerpten durch Fotokopien sehen. Auch das wurde ja mal als Verlust intellektueller Betätigung beklagt, war auch von Effizienz-Überlegungen getrieben und war auch urheberrechtlich nicht unproblematisch (aber halt noch kein Plagiat). Die Überlegung lautete damals: „ich hab’s kopiert, also hab ich’s auch gelesen“, nun heisst es: „ich hab’s kopiert, also hab ich’s auch geschrieben“. Ich warte noch auf Berichte, dass Schüler mit Foto-Handy die Wandtafel-Anschrifen abfotografieren und der Lehrperson mitteilen, dass sie Foto dann ausdrucken und ins Heft kleben.

Vielleicht bedeutet das Plagiats-Problem für die Lehrenden nicht nur, dass sie „besser“ kontrollieren und über die Wichtigkeit des Redlichkeitsprinzips „aufklären“ müssen. Wäre ja eine Überlegung wert, welche Bedeutung dem „Zusammentragen und Wiedergeben“ von Informationen gegeben wird, bzw. wie diese begründet („Verstehen durch Erklären in eigenen Worten“) und eingebettet werden („Ausgangslage für Entwicklung eigener Argumentation“). Das bedeutet nicht, dass die Lernenden auf Anhieb verstehen, warum das „Copy/Paste“-Verhalten nicht nur von den Lehrenden verpönt, sondern am Ende auch für sie selber (bzw. ihr Sachverständnis) wenig gewinnbringend ist.

Bestätigt fühle ich mich durch die Analyse des Medienwissenschaftlers Stefan Weber, der das Problem der seiner Ansicht nach grassierenden Plagiate folgendermassen auf den Punkt bringt:

Die Universitäten fördern in ihrer Unbeholfenheit den Trend zur Umschreib-Mentalität, zur Textkultur ohne Hirn. (aus „Textueller Missbrauch„)

Bei der Beurteilung des Verhaltens der Lernenden ist auch zu berücksichtigen, inwiefern die Lehrenden selber hier mit gutem Beispiel vorangehen (oder eben nicht). Bedenke: auch die Lernenden können mit einer Google-Recherche ausfindig machen, ob das Arbeitsblatt, die Aufgabenstellung oder die Zusammenfassung von wo anders stammt.

Zum Wandel des Schreibprozesses im digitalen Zeitalter im Zusammenahng mit der Frage von Plagiaten lohnt, nebst der pessimistischen Analyse von Stefan Weber zum Google-Copy-Paste-Syndrom, die Lektüre des Artikels Pimp My Text von Frank Hartmann.

Literatur:

Übersicht HOK: Lesen/Schreiben, HOK Lesen: Quellen

3 Gedanken zu „HOK Lesen/Schreiben: Plagiate – oder: vom Abschreiben zum Fotokopieren zum Copy/Paste“

  1. Betr.: „Das Prinzip der wissenschaftlichen Lauterkeit wird von Lernenden nicht verstanden, weil sie die ihnen gestellten Aufgaben einfach nur sehen als „Zusammentragen und Reproduzieren von Informationen, die andere Personen geschrieben haben““

    Ja, genau das ist es. Der Aufschrei der Plagiatsentdecker sollte sich nicht zuerst gegen die Plagiierenden, sondern gegen die Leute wenden, die das durch ihre ganze Art zu Lehren und zu Arbeiten fördern. Durch schlechtes Vorbild (der Name des Professors steht auf dem Buch, von dem jeder Student weiß, dass es von den Assistenten stammt), durch das ewige Wiederkäuen und Wiederaufwärmen der eigenen paar schlichten Thesen in zig Artikeln und Veranstaltungen, durch das gegenseitige Gefälligkeitszitieren, das wirkliche wissenschaftliche Streitgespräche ersetzt, durch langweiligen und veralteten Frontalunterricht und durch das sture Abfragen von Fakten in Klausuren. Im meinem universitären BWL-Grundstudium waren die allermeisten Klausuren „multiple choice“, und in ein paar anderen musste man irgendwelche Konzepte nachbeten. Und im Hauptstudium war es auch nicht viel besser. Eigene Ideen jedenfalls waren überhaupt nicht gefragt. Intellektuelle Zeitverschwendung in Reinkultur, wie auch ein Großteil meiner Schulzeit. Jedem Studenten, der auf solche Fragestellungen solcher Leute ein wohlgeformtes Copy&Paste abliefert, ist geradezu zu gratulieren.

  2. Also ein langsamer, schleichender Übergang, zunächst durch das Aufkommen der Fotokopie, die (intellektuell aufwendigeres) Exzerpieren teilweise überflüssig machte, hin zum kompletten Übernehmen von Textpassagen per Rechner und Textprogramm, unterstützt vom fehlenden Forschergeist der Dozenten. Klingt alles ein bißchen nach den Verfallserscheinungen der Spätantike, als immer mehr Leute dazu übergingen, die lateinischen Klassiker nur auswendig zu lernen und immer weniger von ihnen noch wirklich verstanden, was sie da „nachbeteten“. Da ließen sich sicherlich noch viel mehr Parallelen ziehen…

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