It’s the filture failure, stupid!

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Ich zitiere hier gerne (auch in Referenz an das Mega-Ereignis von morgen Dienstag) Bill Clintons „Tag-line“, die es auch in Wikipedia geschafft hat, um auf den geschätzten Kollegen Clay Shirky hinzuweisen, der ja bereits vor Jahren auf die grundlegende Änderungen in der Art und Weise hingewiesen hat, wie die Informationen in der Internet-Gesellschaft erstellt und verteilt werden.

Bereits 2002 prägte Shirky bei der Beschreibung der Charakteristik von Social Software und ihrer Logik der Publikation die markante Aussage:

The order of things in broadcast is „filter, then publish.“ The order in communities is „publish, then filter.“

Nun hat er das auf einer Rede an der „web 2.0“ in New York im letzten September noch einmal, in etwas anderem Kontext, aufgerollt. Seine Kernaussage ist simpel und einleuchtend: Das Business-Modell der Gutenberg-Ära habe das Risiko beim Verleger platziert: er musste Bücher im Voraus drucken (also Geld investieren), ohne zu wissen, ob sich diese auch verkaufen würden. Daher übernahmen die Verleger die Rolle der Qualitätskontrolle. Dank der gesunkenen Publikationskosten im digitalen Zeitalter (jeder kann publizieren), sei diese Rolle entfallen: die Qualitätskontrolle müsse nun nach der Publikation stattfinden, vorher. Das Problem sein nicht der in den letzten Jahren immer wieder beschworene information overload, sondern filture failure, weil sich nach den Veränderung betreffs der ökonomischen Bedingungen von Publikationen noch keine entsprechende Veränderung bei der Organisation der Qualitätskontrolle („Filtering“) entwickelt habe.

Abgesehen davon, dass diese Argumentation doch noch einmal eine genauere Betrachtung bedarf (Haben die Verlage wirklich eine Qualitätskontrollfunktion übernommen? Ich denke, das trifft nicht in allen Fällen zu, die Rolle der Bibliotheken – die übrigens älter sind als die Verlage – wird von Shirky gar nicht berücksichtigt), finde ich folgendes Detail in der Formulierung interessant.
Zunächst geisselt Shirky beredt den Umstand, dass seit 15 Jahren der information overload als Ausrede gelte, dass wir nichts auf die Reihe kriegen und schlecht organisiert seien („Ui, meine Mailbox war wieder mal übervoll“). Die Wendung vom filture failure impliziert nun, dass es sich um ein systemisches Problem handelt. Das Wirtschaftssystem hat keine taugliche Lösung für die Nachpublikations-Filterung von Informationen entwickelt. Also: Ist das erst einmal entwickelt und eingeführt, dann müssen wir uns mit den ganzen „Medienkompetenz-Debatten“ nicht mehr herumschlagen („Wie suche ich im Internet richtig, um den Informationsmüll zu vermeiden?“), dann haben wir wirklich die passende Information auf Fingerdruck. Also muss Google sich anstrengen und besser programmieren, dann geht es wieder.
Aber Shirky geht noch weiter, er behandelt „filture failure“ als Ausdruck eines Bruchs in gesellschaftlichen Konventionen des Umgangs mit Informationen. Er macht dabei auch den Link zu Privatsphäre und Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen.
Anregend und interessant, wer mehr von Shirky lesen möchte, dem sei die jüngste Publikation empfohlen, die zeigt, dass es Shirky nicht so sehr um Technik geht, sondern um neue Formen, wie sich Menschen sozial organisieren, um Ziele zu erreichen:

3 Gedanken zu „It’s the filture failure, stupid!“

  1. >Das Wirtschaftssystem hat keine taugliche Lösung für die
    >Nachpublikations-Filterung von Informationen entwickelt. Also: Ist
    >das erst einmal entwickelt und eingeführt, dann müssen wir uns mit
    >den ganzen “Medienkompetenz-Debatten” nicht mehr herumschlagen, dann
    >haben wir wirklich die passende Information auf Fingerdruck.

    Da würde ich nicht zustimmen. Schauen wir einfach mal wenige Jahre zurück, wie man damals in den Geisteswissenschaften gearbeitet hat. Zettelkatalog statt OPAC und dicke Bibliographiebücher statt JSTOR und IBZ. Das gleiche gilt z.B. für Emails – wenn wir jeden Tag so viel „richtige“ Post bekommen würden, hätten wir schnell Chaos auf dem Schreibtisch und den Überblick verloren. Da wurde schon einiges geleistet, um Informationen zu filtern und passend zu sortieren.
    Auch wenn alle diese Techniken natürlich nicht perfekt sind, sollte man nicht vergessen, wie weit wir schon gekommen sind. Und nebenbei sind viele Probleme nicht technischer, sondern juristischer Natur. Das größte Problem bei einem Nachpublikationsfilter wie Google Book Search ist halt das Urheberrecht und nicht die Technik.

  2. Ebenfalls zu der zitierten Stelle: Das halte ich für eine zu technik-zentrierte und technik-optimistische Sichtweise. Die Instrumente, mit denen wir filtern können, werden tatsächlich kontinuierlich weiterentwickelt, das ist offensichtlich. Aber vor allem entstehen auch immer noch ganz neue Ansätze dabei, ich will hier beispielhaft nur die zahlreichen neuen Instrumente des gemeinschaftlichen Filterns nennen, die bei Shirky ja auch eine wichtige Rolle spielen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie und wann es jemals die eine, goldene, Kugel geben sollte, die dieses Problem von den Schultern des Individuums nimmt. Den Trend, den wir bei der explosionsartigen Entwicklung des Webs in den letzten vier oder fünf Jahren beobachtet haben, weist doch eher in die umgekehrte Richtung: Die Informationslandschaft wird immer komplexer, und die Medienkompetenz, wenn man es mal so nennen möchte, wird immer wichtiger.

    Abschließend noch zwei eventuell interessante Querverweise: Das aktuelle Buch von Shirky (Here comes everybody) ist als Einstieg in seine Thesen sehr gut geeignet, auch wenn es für diejenigen, die seine bisherigen Aufsätze schon kennen, einige Längen hat.

    Anderer Querverweis: Der Biologe David Crotty bestreitet in seinem Weblog die „filter failure“-These grundsätzlich. Ich teile zwar nicht seinen Einwand, aber die Kritik hat immerhin interessante Diskussionen ausgelöst, vgl. http://www.cshblogs.org/cshprotocols/2009/01/14/information-overload-is-not-filture-failure/ und http://friendfeed.com/e/cf26a58a-3205-b6ca-f426-26414a3d575a/Information-overload-is-NOT-filture/

  3. Zur Klärung: ich wollte darauf hinweisen, dass die „filture failure“-These ein Systemversagen impliziert, und den Fokus weg von der Verantwortlichkeit des einzelnen auf systemische Funktionen lenkt. Das wird in der Rezeption gerne ökonomisch oder technisch verstanden (im Sinne von „Google hat noch nicht die richtigen Algorithmen entwickelt“) – Shirky selbst meint das aber primär als Beschreibung einer noch ausstehenden Adaption gesellschaftlicher Systeme auf neue Formen der Kommunikation und der Organisation von Gruppen.
    Dabei greift Shirky den „Mythos des Information Overloads“ an: zu viel Information gab es schon lange vor dem digitalen Medienwandel; damals gab es etablierte Filtersysteme (Shirky nennt hier die Verlage, es gab aber auch andere), die sicherstellten, dass Individuen die Informationen erhielten, die sie brauchten, bzw. auf die sie Zugriff haben durften. Shirkys These: nicht die Menge an Informationen ist das Problem, sondern ihre Organisation und Verteilung. Bei der Bewältigung dieses Problems lag der Fokus (mit der vielbeschworenen Medienkompetenz) bislang auf dem Individuum; mit der These vom „filture failure“ verlagert sich der Fokus auf systemische Lösungen, seien dieser wirtschaftliche, technische oder gesellschaftlicher Natur.

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