Wir haben uns hier schon oft und ausführlich über das Phänomen Wikipedia geäussert, gerade eben hat Kollega Haber in einer luziden Kurzanalyse ein Schlaglicht auf das Wesen von Wikipedia (und das Web 2.0) geworfen. Da er darin bereits angekündigt hat, dass Beiträge von meiner Seite zum Thema Wikipedia folgen, soll dieser Ankündigung hiermit Folge geleistet werden. In einer kleinen Reihe von Blog-Einträgen, die hiermit eröffnet wird (vgl. Übersicht am Ende dieses Beitrags), möchte ich Wikipedia stärker unter einer historischen, genauer geschichtswissenschaftlichen Perspektive betrachten. Dies geschieht im Rahmen der Recherchen für einen Artikel mit Peter Haber, der in Kürze in der SZG erscheinen und mögliche Ansätze skizzieren wird, wie die Bedeutung von Wikipedia für die Geschichtswissenschaften ermittelt werden kann.
In der Regel stand bei unseren bisherigen Beiträgen zu Wikipedia die Frage im Vordergrund, wie Academia (vor allem der Lehre, weniger der Forschung) im Allgemeinen mit der Wikipedia umgeht. ((hierzu wäre auch auf die jüngst publizierte Erhebung von Rene König und Michael Nentwich zu verweisen: König, René; Nentwich, Michael: Wissenschaft in Wikipedia und anderen Wikimedia-Projekten, Wien 2009 (Verfügbar unter: http://epub.oeaw.ac.at/ita/ita-projektberichte/d2-2a52-2.pdf, letzter Aufruf 18.8.2009).))
Eine spezifische Auseinandersetzung mit Wikipedia aus der Warte der Geschichtswissenschaft, die uns eigentlich in diesem Blog besonders interessieren müsste, hat bislang erst Roy Rosenzweig vorgelegt. ((Roy Rosenzweig, Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past, in: Journal of American History, 93 (2006), 1, S. 117-146. Verfügbar unter http://chnm.gmu.edu/resources/essays/d/42, letzter Aufruf 18.8.2009)) Denn auch Maren Lorenz befasst sich in ihrer kritischen Bestandesaufnahme zur Machtverteilung bei der Online-Enzyklopädie und bei der engagierten Würdigung ihrer mutmasslichen Wirkung auf die Wissensgesellschaft mit allgemeinen Phänomenen und spitzt die Analyse nicht unter einer geschichtsspezifischen Perspektive zu. ((Dennoch sind ihre Beiträge auch für die Geschichtswissenschaft von Bedeutung: Lorenz, Maren: „Wikipedia – ein Modell für die Zukunft? Zur Gefahr des Verschwindens der Grenzen zwischen Information und Infotainment“, in: Jorio, Marco; Eggs, Cindy (Hg.), Am Anfang ist das Wort. Lexika in der Schweiz, Baden 2008, S. 91-109. und: Lorenz, Maren: „Wikipedia. Zum Verhältnis von Struktur und Wirkungsmacht eines heimlichen Leitmediums“. In: WerkstattGeschichte 43 (2006), S. 84-95. ))
Wie der Beitrag von Rosenzweig zeigt (der hier bereits früher vorgestellt wurde), richtet sich eine geschichtswissenschaftlich interessierte Analyse von Wikipedia zunächst einmal auf die Inhalte: ((Denn die Personen bleiben mitsamt ihren Motiven grösstenteils im Dunkeln, wenn sie sich nicht in hitzigen Debatten, in der Wikipedia eigenen „Redaktion Geschichte„, an der Zedler-Medaillen-Verleihung oder im eigenen Weblog outen.)) Was genau steht denn in Wikipedia drin und wie sind die Inhalte unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen? Dabei sah sich auch Rosenzweig mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, dass die Analyse einzelner, auch gut gewählter Artikel keine Schlüsse auf die Gesamtheit der Wikipedia-Einträge zulässt: es gibt keine durchgängigen Qualitätskontrollen und die Zahl, Motivation und Qualifikation der Mitarbeiter variiert von Artikel zu Artikel und von Tag zu Tag. Inhaltsanalysen von Wikipedia-Einträgen bleiben notgedrungen punktuell: in Bezug auf die Breite der darin behandelten Inhalte und in Bezug auf seine Kontinuität, denn jeder Artikel kann jederzeit nach der genauen Untersuchung massgeblich geändert werden (auch wenn dies bei den meisten Artikel in der Regel nicht geschieht).
Rosenzweig löste das Problem mit der Konzentration auf die Gattung biographischer Einträge. Diese waren laut Rosenzweig konsistenter in ihrer Qualität und liessen sich mit ähnlichen Publikationen vergleichen (Encarta, ANB Online). Was die faktische Richtigkeit betraf, konnten die 25 biographischen Einträge aus Wikipedia, die Rosenzweig verglich, mit den Beiträgen aus den anderen Werken mithalten. Sie waren jedoch weitaus weniger ausführlich und vermochten vor allem stilistisch kaum zu überzeugen. Rosenzweig beklagte die teilweise etwas lieblose Aneinanderreihung von Fakten, idealtypisch repräsentiert in der Spiegelstrich-Prosa.
In einer kleinen Reihe von Blog-Einträgen möchte ich Rosenzweig – allerdings in bescheidenerem Masse – folgen: ich möchte für einige ausgewählte Einträge zur Schweizer Geschichte einen Vergleich zwischen Einträgen aus Wikipedia und solchen des HLS anstellen. Der Vergleich wird die Frage, ob Wikipedia „verlässlich“ oder „besser“ oder auch nur „gleich gut“ ist wie das HLS (oder andere Fachlexika), nicht beantworten können. Er soll einige Eigenarten von Wikipedia illustrieren und schliesslich Anlass sein, verschiedenen Möglichkeiten anzuführen, wie über die Bedeutung von Wikipedia für die Geschichte nachgedacht werden kann.
Die Einträge dieser Blog-Reihe im Einzelnen (sie folgen in den nächsten Tagen und Wochen):
- (II) Zahlenspiele: Was kommt denn an Geschichte in Wikipedia überhaupt vor?
- (III) Vergleich 1: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg
- (IV) Vergleich 2: Der Landesstreik
- (V) Vergleich 3: Henri Guisan, Gertrude Kurz, Robert Grimm
- (VI) Fazit: Wikipedia und Geschichte: Ansätze für einen analytischen Zugang
Kommentare sind wie immer gerne willkommen.
Ach ja, gemeint war eigentlich der seit einiger Zeit ausstehende grössere Forschungsbeitrag von Kollega Hodel.
Der wird noch eine gewisse Zeit weiter ausstehen…
Ist da was verloren gegangen?
„Sie waren jedoch weitaus weniger ausführlich und liessen ein
In einer kleinen Reihe von Blog-Einträgen“
Vielen Dank für die Reihe. Die Entwicklung vom Blog zum Pre-Print Server scheint mir durchaus positiv und wurde von Jakob Nielsen vor zwei Jahren in seiner lesenswerten Kolumne „Write Articles, Not Blog Postings“ empfohlen: „It might take you only an hour to write a blog posting on some current controversy, but a thousand other people can do that as well (in fact, they’ll sometimes do it better, as shown above). […] In contrast, in-depth content that takes much longer to create is beyond the abilities of the lesser experts. A thousand monkeys writing for 1,000 hours doesn’t add up to Shakespeare. They’ll actually create a thousand low-to-medium-quality postings that aren’t integrated and that don’t give readers a comprehensive understanding of the topic — even if those readers suffer through all 1,000 blogs.“ http://www.useit.com/alertbox/articles-not-blogs.html
@Daniel: Ja, da ging was verloren. Ist jetzt ergänzt.
Und Danke für den Hinweis auf Nielsen, dessen Aussagen meistens eine gehörige und gesunde Portion kritische Distanz auf den allgemeinen Medienhype beinhalten. Seine Aussagen verstehe ich allerdings eher so, dass man das Bloggen gleich ganz bleiben lassen solle… und soweit sind wir ja noch nicht. Und ob wirklich alle Tagungsbeiträge, die sich so über das Jahr ansammeln, wirklich mehr Substanz haben als die Äusserungen in den Blogosphäre…? Wäre auch mal ein nettes Forschungsprojekt 😉