Starker Tobak für die Wikipedianerinnen und Wikipedianer: Auf der Liste der weltweit am häufigsten aufgerufenen Websites wurde Wikipedia kürzlich ausgerechnet von Facebook überholt und rutschte auf Platz 5 ab.
Nach Angaben von Erick Schonfeld auf TechCrunch sieht die aktuelle Liste (Stand Juni 2009) folgendermassen aus; gezählt wuden eindeutige Besucher, sog. «unique visitors»:
1. Google Sites: 844 million
2. Microsoft Sites: 691 million
3. Yahoo! Sites: 581 million
4. Facebook: 340 million
5. Wikimedia Foundation sites: 303 million
6. AOL: 280 million
7. eBay: 233 million
8. CBS Interactive: 186 million
9. Amazon: 183 million
10. Ask Network: 174 million
Kollege Nando Stöcklin scheint ob der Nachricht sogleich in tiefes Grübeln verfallen zu sein. «Die Welt geht vor die Hunde. Mehr Leute informieren sich in Facebook als in der Wikipedia» zwitscherte er und wir fragen uns: Hat er recht? Erstens mit der Behauptung: Die Welt geht vor die Hunde. Und zweitens mit der Aussage: Mehr Leute informieren sich in Facebook als in der Wikipedia.
Nein. Und nochmals nein.
Wir sind überzeugt, dass die Welt auch dann nicht vor die Hunde gehen würde, wenn Wikipedia von heute auf morgen ganz verschwinden würde. Nicht dass wir dies Wikipedia und uns selbst wünschten. Wikipedia ist ein wunderbares Projekt – nicht unbedingt, um sich über allzu komplexe Sachen zu informieren. Aber Wikipedia ist bestens dazu geeignet, den neuen Umgang mit Wissen, Information und der diskursiven Macht digitaler Medien zu beobachten. Kollega Hodel wird in absehbarer Zukunft einen Beitrag zu diesem Thema leisten und viele andere Sozialwissenschafter/innen sind ebenfalls mit entsprechenden empirischen Untersuchungen beschäftigt.
Aus gutem Grund: Wikipedia ist unseres Wissens der zur Zeit grösste Feldversuch, um Prozesse der Wissensgenerierung und -strukturierung in einem digitalen Umfeld zu erproben. Tausende von Wikipedianern nehmen an diesem Experiment teil und wir Wissenschafter sollten dankbar sein, dass wir eine so grossartige Datenquelle wie die Versionsgeschichten, Diskussionsseiten, Löschantragslisten etc. von Wikipedia frei Haus geliefert bekommen.
Und dann die zweite Aussage von Nando Stöcklin: Ist es wirklich so, dass man Wikipedia mit Facebook vergleichen kann? Ist die Art und Weise, wie man sich auf Wikipedia und auf Facebook „informiert“ die gleiche Handlung? Um was geht es bei Facebook? Doch nicht um Information im Sinne von einem Ausgangsmaterial von Wissen. Auch nicht um einen Kanon von Informationen aus Wissenschaft, Bildung, Kultur oder Pop. Es geht vielmehr um hochgradig individualisierte Informationen, die vor bestimmten Teilöffentlichkeiten verhandelt werden. Wer war mit wem wann an welcher Party? Wer hat wo und mit wem seinen Urlaub verbracht? Und – viel grundsätzlicher – wer ist mit wem wie intensiv bekannt?
Facebook ist also genau nicht die von vielen spöttisch belächelte sinnentleerte Plattform, sondern sie ist nichts anderes als eine digitale agora, während Wikipedia dem alten Traum der alexandrinischen Bibliothek nachhängt. Der enkyklios peideia, auf den sich Wikipedia schon im Namen bezieht, ist – zumindest in der enzyklopädischen Tradition, wortgeschichtlich allerdings nicht ganz korrekt – der Kreis des Wissens und nicht der Markt der Neuigkeiten.
Ein Blick auf die TechCrunch-Liste zeigt, dass bei den Top Ten des Netzes der Kreis des Wissens noch immer im Vordergrund steht. Nur eBay und Facebook bilden, in jeweils anderen Facetten, die griechische agora, den Markt- und Umschlageplatz für Neuigkeiten und Waren, den Versammlungsort der ausdifferenzierten Gesellschaft ab. Dass aber genau diese Elemente zur Zeit auf zunehmendes Interesse stossen, scheint verständlich: Während der letzten rund zehn Jahre wurde das WWW als unendliche Wissensmaschine und didaktisch hochgerüstete Sonderzone verkauft, wurden Wissen, Bildung und Effizienz gepredigt. Und das Interesse hielt sich in Grenzen.
Das Web 2.0 öffnete ganz offensichtlich die Schleusen für eine Entwicklung, die diesen Bahnen nicht mehr folgen will. Dass Facebook attraktiver ist als Wikipedia – wen wunderts?
Übrigens: Etwas für die Ohren zum Thema Wikipedistik gibts hier.
(Bild: Wikisource)
Sehr schön beobachtet, Kollega Haber! Anzufügen gibt es da eigentlich nichts, ausser vielleicht die profane Feststellung, dass Google und Yahoo noch vor Facebook liegen: Das Web ist ein „ich schau schnell nach“ – Medium: egal, ob es um Nachrichten, Definitionen, Bibliographien, Statusmeldungen, Fahrplanauskünfte, Kochrezepte, Filmrezensionen und Klatsch geht – ein ziemlicher Kontrast zu der von Dir zu recht gegeisselten Vorstellung einer „didaktisch hochgerüsteten Sonderzone“ der Allwissenheit. Aber eben auch ein Zeichen, dass das Netz ganz simpel in unserem Alltag angekommen ist.
Ja, aber das „ich schau schnell nach“ löst grundsätzlich keine emotionale Bindung an die Website aus. „Ich schau schnell nach, was meine Freunde machen“ indes sehr wohl – das ist der springende Punkt. Und das wird wohl auch das Themenfeld für eine kommende Psychologie des Netzes sein. Hoffe ich.
Hmm, ein interessanter Hinweis. Hier gibt es vermutlich wirklich einen Gap zwischen den „emotional bindenden“ und den „funktionalen“ Web-Angeboten – das verspricht als Analyse-Ansatz spannend zu werden. Allerdings könnte es Google möglicherweise egal sein, wie emotional die Bindung zur Suchmaschine ist, solange die Funktion attraktiv genug ist, um hunderte Millionen User anzulocken.