Quellenkritik, Geschichtslernen und „Digitale Historische Methode“

televisionarchive

Quellenkritik (darauf hat Kollega Kreyenbühl bereits hingewiesen) ist ein Thema, zu dem Kollega Haber in seinem Projekt digital.past eingehend nachgedacht hat (auch in diesem Blog immer wieder dokumentiert). Die folgenden Ausführungen möchten diesen Gedanken aus der Warte der Geschichtsdidaktik aufnehmen. Wie hier im Blog bereits angesprochen, halte ich es für wichtig, die historische Methode auf die digitale Ausprägungen der gegenwärtigen Geschichtskultur anzupassen und eine solche „digitale historische Methode“ für die Geschichtsdidaktik nutzbar zu machen. Im Kern geht es um eine Anpassung der Quellenkritik an die Realität digitaler Medien und um die Ausweitung der „Zone des Geschichtslernens“ auf die Recherche. Denn das historische Lernen und Denken beginnt nicht erst, wenn die Quelle oder Darstellung zur Analyse auf dem Schreibtisch vorliegt, bzw. dem Bildschirm leuchtet. Und: Schüler/innen (und auch Studienanfänger/innen) haben sich kaum mit Quellen im klassischen Sinne auseinanderzusetzen, sondern zumeist mit Manifestationen der Geschichtskultur (in der Regel Darstellungen, also Deutungen von Vergangenheit) oder mit neuartigen Quellengattungen in spezifischen Aufbereitungsformen – wie zum Beispiel das September 11 Television Archive, das im obigen Screenshot zu sehen ist.

Urspünglich hat der deutsche Historiker und Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen ((vgl. Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008.)) die Grundlagen zur Historischen Methode in seiner Historik (1857/1882) ((Droysen, Johann Gustav: Historik (Bd. 1 der historisch-kritischen Ausgabe von Peter Leyh und Walter Blanke), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977.)) entwickelt, unter anderen (und für die Geschichtsdidaktik am bedeutsamsten) hat Jörn Rüsen hat sie in den 1980er Jahren mit einem dreiteiligen Werk aktualisiert und ausgebaut. ((v.a. Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. (Grundzüge einer Historik, Bd. 1), Göttingen 1983.)) Obwohl es auch andere Konzeptionen des wissenschaftlichen Arbeitens gibt (man denke an die hier auch bereits zitierten „opération historiographique“ von Michel de Certeau), prägt (so wage ich zu behaupten) die historische Methode auch die gegenwärtige Praxis der Geschichtswissenschaft noch immer massgeblich, wenngleich sie selten explizit als Basis des geschichtswissenschaftliche Arbeitens in den Universitäten gelehrt wird.

Die Historische Methode setzt sich zusammen aus den drei Erkenntnisschritten Heuristik, Kritik und Interpretation. Die Geschichtsforschenden entwickeln im Schritt der Heuristik die Fragestellung und wählen zu ihrer Beantwortung geeignete Quellenbestände aus. Im Schritt der Kritik werden die Quellen systematisch untersucht (Quellenkritik) und erschlossen, was dann zum Schritt der Interpretation führt, wo die vorliegenden Fakten aus der Vergangenheit gedeutet und in eine sinnvolle (und Sinn gebende) Narration, eine historische Erzählung überführt werden. Soweit, so bekannt.

Eine gleichsam „digitale Version“ der historischen Methode müsste sich mit verschiedenen Besonderheiten der gegenwärtigen Geschichtswissenschaften auseinandersetzen ((hierzu sei – auch zum wiederholten Male – auf das in Kürze erscheinende Basis-Werk hingewiesen, an dem Kollega Haber mitgewirkt hat: Gasteiner, Martin, Haber, Peter: Digitale Arbeitstechniken: Für die Geistes- und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2009.)). Historiker/innen sind konfrontiert mit neuen Quellengattungen (Hypertexte, Multimedia-Inhalte, Social Software-Daten, Datenvisualisierungen), digitalisierten Quellenbeständen (Video-Archiven, Volltextdatenbanken von Zeitschriften und Zeitungen, Faksimile-Digitalisierungen von alten Drucken, gescannte Bücher (Google Books u.a.) aber auch neue Zugangsmöglichkeiten zu bestehenden Quellensammlungen (Findmittel und Kataloge). Darüber hinaus haben sie sich auch mit neuen sozialen Kontexten zu befassen, in denen Quellen bereitgestellt, erschlossen und kommentiert (Tagging), aber auch erstellt werden. Dies erfordert, so meine These, nicht nur eine neue, „digitale“ Quellenkritik (die durchaus im Zentrum steht), sondern auch eine Anpassung von Heuristik und Interpretation. Meine jüngst geäusserten Vorstellungen zu Anforderungen an „digital Historians“ ((Hodel, Jan: Digital lesen, digital schreiben, digital denken? Über den kompetenten Umgang mit Geschichte im Zeitalter des digitalen Medienwandels, in: Jorio, Marco;Eggs, Cindy (Hg.), Am Anfang ist das Wort. Lexika in der Schweiz, Baden 2008, S. 113-125.)) lehnen sich einerseits an ein früher von mir vorgestelltes Modell der historischen Online-Kompetenz ((Hodel, Jan: Historische Online-Kompetenz. Informations- und Kommunikationstechnologie in den Geschichtswissenschaften, in: ders. (Hg.), Geschichte lehren an der Hochschule. Bestandsaufnahme, methodische Ansätze, Perspektiven, Schwalbach am Taunus 2007, S. 194-210.)), aber auch an diese Überlegungen zu einer digitalen historischen Methode an. Dass sich die Arbeit der Digital Historians in Zukunft ganz grundlegend ändern könnte, hat gerade jüngst Kollega Haber mit dem Hinweis auf den „digitalen Schreibtisch„, bzw. auf das Konzept der e-history angedeutet – kein Wunder, dreht sich doch sein Projekt digital past genau um diese Fragen – und ist auch in den Thesen zur Digitalen Geschichtswissenschaft von uns beiden thematisiert worden. (Link zu Google-Wave-Eintrag, digital past)

Ich möchte dafür plädieren, diese Überlegungen auch für die Geschichtsdidaktik zu nutzen. Dass einige der aktuell diskutierten Kompetenzmodelle des historischen Denkens und Lernens sich auf ein Modell historischen Denkens beziehen, das sich gut mit der historischen Methode vereinbaren lässt (vor allem FUER ((Körber, Andreas, et al. (Hg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik , Neuried 2007.)) und Gautschi, ((Gautschi, Peter: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise Schwalbach am Taunus 2009.)) in Teilen aber auch Pandel ((Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach am Taunus 2005.)) und andere), kommt diesem Plädoyer entgegen. Doch insgesamt bleibt zu konstatieren, dass zur Zeit sowohl in den theoretischen Überlegungen als auch in der Unterrichtspraxis die historische Methode (ob digital oder analog) kaum nennenswerte Aufmerksamkeit erfährt.

Die Begründung für die Anwendung der digitalen historische Methode im Geschichtsunterricht leitet sich aus der Beobachtung des Medienhandelns von Schüler/innen ab. Diese haben dank dem Internet Zugang zu einer bis vor kurzem für Schüler/innen unvorstellbaren Menge an Informationen über die Vergangenheit. Das sind (seltener) historische Quellen, die entweder digitalisiert vorliegen oder digital erstellt wurden oder (häufiger) Darstellungen, die in in mehr oder minder expliziter Form vergangenes Geschehen aus gegenwärtiger Perspektive deuten. Eine kritische Würdigung und Analyse dieser Informationen berücksichtigt sowohl den jeweiligen Entstehungszusammenhang wie auch die formale und inhaltliche Kohärenz des jeweiligen Dokuments. Unter den Bedingungen der digitalen Medienlandschaft umfasst die Analyse aber zunehmend auch eine kritische Auseinandersetzung und Prüfung des Fundorts. Somit muss sich meines Erachtens die historisch-kritische Analyse auch auf die Recherche erstrecken. Schüler/innen, die selbständig durch historische Informationen navigieren, sollten das nötige Rüstzeug zur Orientierung in unstrukturierten, bzw. unterschiedlich strukturierten Informations-Angeboten und zur Auswahl der für sie relevanten Informationen verfügen. Wenn sie eine historischen Frage bearbeiten, werden die Suchenden sinnvollerweise andere Datenbestände ansteuern und insbesondere anhand anderer Kriterien prüfen, ob die aufgefundenen Informationen eine weitere kritische Analyse lohnen, als wenn sie im Bereich Geographie oder Deutsch Informationen sammeln.

Dabei werden auch schon Fähigkeiten der Interpretation benötigt. Denn die im Internet auffindbaren Informationen und Datenbestände sind aus verschiedensten Beweggründen und mit den unterschiedlichsten Interessen entstanden; bereits die Auswahl und Strukturierung der jeweiligen Bestände tragen Deutungen in sich, die erkannt und differenziert werden müssen, um die Informationen richtig zu nutzen. Dass Archive andere Kriterien für die Auswahl von Archivbeständen anwenden als private Dokumentationsstellen oder Sammlungsabteilungen von Bibliotheken, und das sich in diesem Tun Deutungen manifestieren, gehört für Wissenschaftler/innen zum Basiswissen – für Schüler/innen (und auch für Studienanfänger/innen) jedoch nicht. Die Situation wird noch komplizierter, weil sich die Informations-Domänen im Alltag zu durchmischen beginnen. Von den Bibliothekskatalogen ist man in einem Klick bei Google Books und mit einem weiteren Klick bei Amazon; eine weitere Suche bei Google kann zu Bilddatenbanken, Fachportalen oder zu Wikipedia führen. Die digitale historische Methode sollte hier als fachmethodischer Leitfaden laufend Orientierungshilfe bieten.

Zusammengefasst:

  • Heuristik: Identifizieren und sich Zugang verschaffen von Datenbeständen, die für jeweilige historische Fragestellung relevant und zielführend sind; Kenntnisse über ihre Entstehungsbedingungen, Auswahl geeigneter Dokumente
  • Kritik: Analyse von Dokumenten zur Entnahme von Informationen über die Vergangenheit mit besonderer Berücksichtigung des Entstehungs- und Überlieferungskontext (Bearbeitungen, Digitalisierung) formaler Erscheinung und inhaltlicher Kohärenz. Hierzu gehören Quellen (digitale und digitalisierte) und Darstellungen (konventionelle, kooperativ erstellte, von Laien erstellte).
  • Interpretation: Erklärende, deutende Einbindung in einen grösseren geschichtlichen Kontext unter einer Perspektive, die auf ein bestimmten Erkenntnisziel ausgerichtet sind. Diese findet vermehrt nicht nur in einem geschichtswissenschaftlichen, sondern vor allem auch in einem geschichtskulturellen Kontext statt. Denn Schüler/innen (und in weiten Teilen auch Studienanfänger/innen) werden beim „Geschichtslernen“ in der Regel gar nicht mit Quellenbeständen sondern mit deutenden Darstellungen konfrontiert, wobei die Grenze je länger, je schwieriger zu ziehen ist. Hier erweitert sich die historische Methode zu einer geschichtskulturellen Kompetenz, die die Anwender/innen befähigt, die Deutungsmuster in historischen Darstellungen kritisch zu analysieren und zu interpretieren. Daran hat sich auch die Auswahl von geeigneten Datenbeständen und den einzelnen, zu untersuchenden Dokumenten zu orientieren.

Eine solche „digitale historische Methode“ ist damit zunächst lediglich skizziert und die Diskussion um ihre präzise Definition in den einzelnen Erkenntnis- und Arbeitsschritten erst eröffnet. Dabei sind einerseits weitere theoretische Überlegungen, aber auch Erfahrungen aus der Praxis zu berücksichtigen.

7 Gedanken zu „Quellenkritik, Geschichtslernen und „Digitale Historische Methode““

  1. Nun, wenn es die Leser/innen zum Lachen bringt… – aber klar, hier ist in der Hitze des Blogbeitrag-Schreibens im Zug mit 30 tobenden Jugendlichen auf Schulausflug das falsche Register gezogen worden. Würde mich interessieren, ob sich Johann Gustav darob im Grabe dreht oder vor sich hinschmunzelt. Der fatale Fehler (der mittlerweile – da in den Kommentaren ausreichend dokumentiert – im Text korrigiert wurde) zeigt nur auf, wie sinnvoll eine sorgfältiges Lektorat ist. Bitte, liebe Autor/innen und Verlage, ins Merkheft notieren.

  2. Ich will ja nicht besonders pingelig sein, aber diese Art von Löschaktion finde ich problematisch. Zur Erinnerung: Wir haben hier im Weblog keine Versionierung, d.h. es ist nicht mehr nachvollziehbar, was Du eigentlich geschrieben hast. Wenn ich hier den Archivaren predige, dass Peer Review 2.0, also Qualitätskontrolle ex post, nur funktioniert, wenn vollständige Transparenz herrscht, leben wir hier also offenbar das Gegenteil.

  3. Das ist ein guter Punkt. In der Tat haben wir hier Weblog keine diesbezüglichen Richtlinien, wie nachträgliche Bearbeitungen von Blog-Posts zu handhaben, bspw. zu kennzeichnen sind. In der Vergangenheit habe zumindest ich die Einträge nach Rückmeldungen aus den Kommentaren Passagen ergänzt oder Tippfehler verbessert. Hier die Anforderungen strenger anzusetzen, ist zwar im Zuge unserer Auseinandersetzung mit dem Thema verständlich, aber halt auch problematisch; weil nicht rückwirkend für alle Einträge im Weblog anwendbar. Es ist ja eine Kerneigenschaft des Mediums, dass Veränderungen in Inhalten möglich sind. Wirklich gut lösen liesse sich diese Anforderung nur, wenn Weblogs mit Wikis gekreuzt werden und Versionierung einsehbar sind.
    In diesem konkreten Fall muss ich allerdings darauf hinweisen, dass die Original-Aussage relativ einfach anhand des ersten Kommentars rekonstruiert werden kann. Selbstverständlich kann ich hier gerne das beanstandete Original zitieren (s.u.), eine bessere Lösung fällt mir nicht ein, da sonst aufgrund mangelnder Versionierung erst recht Konfusion einkehrt.
    Also, die Passage zu Beginn des zweiten Absatz mit dem Wortlaut „Urspünglich hat der deutsche Historiker und Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen (…)“ lautete in der ersten publizierten Version „Urspünglich hat der deutsche Geschichtsphilosoph Johann Gustav Droysen“. Ergänzt wurde auch der Literaturhinweis auf die Publikation von Wilfried Nippel.
    Ich bin jetzt nicht ganz sicher, wieviel an Transparenz dieser Kommentar von mir geschaffen hat. Aber es geht ja darum, sich mit den Anforderungen an das wissenschaftliche Arbeiten in digitalen Medien auseinanderzusetzen. Was hat das werte Publikum für Meinungen zum Thema „Statthaftigkeit von und Voraussetzungen für nachträgliche Anpassungen an digitalen Publikationen“?

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