Heute vor einer Woche war ich schon wieder zurück aus Regensburg. Zeit also, den 79. Deutschen Archivtag Revue passieren zu lassen. Zuerst die positiven Eindrücke: Die Tagung mit rund 800 Teilnehmenden war sehr gut organisiert, sieht man vom scheusslichen Tagungsort an der Uni Regensburg ab. Sogar ein wLAN war vorhanden. Interessant fand ich auch die begleitende Ausstellung Archivistica, die Gelegenheit bot, mit Fachleuten ins Gespräch zu kommen und auch exotische Angebote genauer sich anzuschauen.
Seltsam berührt hat mich die Art und Weise der Auseinandersetzung der versammelten Archivarengemeinde mit dem Thema Digitalisierung. Zum einen ging es fast ausschliesslich um retrodigitalisierte Archivalien. Zum anderen kam das wesentlich komplexere Thema der genuin digitalen Archivmaterialien – so schien es mir – kaum vor in Regensburg.
Dabei hatte ich den Eindruck, dass es eine kleine Minderheit von offenen und experimentierfreudigen (zumeist jüngeren) Archivaren gibt, der gegen einen schier unbeweglichen Block von Traditionalisten anrennt. Die Tradionalisten allerdings haben gelernt, die Zeichen der Zeit zu lesen und hüten sich, sich grundsätzlich gegen Innovation und neue Technologien auszusprechen. Sie führen ihren Verteidigungskampf vielmehr auf der Ebene von juristischen Spitzfindigkeiten. So etwa über die Frage, wie weit digitalisierte Archivalien nicht frei zugänglich sein können.
Würden nicht Leute wie Klaus Graf immer wieder den Finger auf die wunden Punkte legen. würde sich wohl gar nichts bewegen in Deutschlands Archiven. Woher die Angst der Tradionalisten vor Veränderung kommt? Ich weiss es nicht. Aber im Unterschied zur Schweiz und zu einigen angelsächsischen Ländern scheint diese Starre in Deutschland wesentlich ausgeprägter zu sein.
Ebenfalls aufgefallen ist mir die ausgeprägte Hierarchiegläubigkeit im deutschen Archivwesen. Deutsche Archivare sehen sich als Bemate und keinesfalls als Wissenschafter. Das mag mit dem deutschen Beamtenrecht zu tun haben (und mit dessen Geschichte), es führt aber dazu, dass sich Archivare und Historiker in Deutschland noch viel fremder sind, als sie es zum Beispiel in der Schweiz und in anderen Ländern sind. Natürlich spielt dabei auch die Tatsache eine Rolle, dass Deutschland eine geregelte archivarische Ausbildung kennt, während das in der Schweiz erst im Aufbau begriffen ist. Diese Ausbildung in Marburg oder München führt zu einer ganz starken Identitätsbildung – und eben einer Entfernung vom historischen Lehr- und Forschungsbetrieb.
Und noch etwas ist mir aufgefallen: Während der Deutsche Historikertag eine internationale Ausstrahlung hat und beispielsweise auch rege von schweizerischen Historikerinnen und Historikern frequentiert wird, waren Archivare aus der Schweiz in Regensburg praktisch nicht anwesend (wenige Ausnahmen ausgenommen).
P.S.: Nicht verpassen sollte man die Nachlese von Klaus Graf!
Prinzipiell ist der Beitrag gut und geht in die richtige Richtung. Nur übersieht der Autor, dass Klaus Graf sicher gute Hinweise hat, aber meist stark bibliothekarisch geprägt ist und teilweise am Archivrecht schlicht vorbeischreibt. Hier bestehen LEIDER!! sehr deutliche Unterschiede und Überschneidungen nur in Teilbereichen.
Was das Thema digitale Archive angeht: Klare Zustimmung, insbesondere der Hinweis auf althergebrachte Hierarchien trifft den Nagel auf den Kopf. Doch das Problem liegt genau in der Ausbildung sowohl im höheren wie gehobenen Dienst. Die EInsicht, das Archivare primär Dienstleister und eben NICHT Wissenschaftler sind ist wenig verbreitet, schon gar nicht die notwendigen Inhalte für den Themenkontext elektronische Archivierung, der zwangsläufig Themen wie Records Management, Langzeitspeicherung beinhaltet oder Fragen Informations- und Wissensmanagement, Informationsmethodik, Information Retrieval und Informationswirtschaft. Gerade in der englischsprachigen Welt ist das Archiv Dienstleister für die anbietungspflichtigen Stellen im Kontext Records Management. Wer schreibt denn die Standards weltweit? Wer bietet Lösungen, während hier noch Grundsatzdiskussionen geführt werden? Gerade das UK, Australien, Kanada, USA – oder eben auch die nahegelegene Niederlande (auch wenn diese nicht englischsprachig, aber entspr. verankert ist). Der Archivar als Dienstleister, mit entspr. Fachkompetenz in Beratungsfunktion für die anbietungspflichtigen Stellen oder eben Dienstleister für den Nutzer. Der Archivar wertet nicht selbst aus, sondern stellt Informationen entspr. aufbereitet für den Kunden bereit. Ansonsten würde sich zwangsläufig die Frage nach persönlichem wissenschaftlichen Interesse und dessen Beeinflussung einer objektiven Bewertungsentscheidung stellen.
Dies sind nur einige Gründe für die von Ihnen richtig bemerkten Punkte. Kleiner Tip noch: Neben Marburg und München bildet noch die FH Potsdam Archivare aus – nur hie als normale FH, nicht als Beamte, sondern Informationsspezialisten in Teilintegration der anderen informationswiss. Disziplinen Bibliotheks- und Dokumentationswissenschaft.
1) Die Archiv(ar)e in der Bundesrepublik sind nicht im Web 2.0 angekommen. Dies darf man als Fazit von Glauerts Vortrag so feststellen. „Archivalia“ ist als Gemeinschaftsweblog angelegt, wer also mehr archivischen Inhalt will, kann ihn dort selbst erstellen oder ein eigenes Weblog betreiben. So einfach funktioniert Web 2.0!
2) Objektive Bewertungsentscheidung? So lange Archivierende alleine bewerten sind die Entscheidungen subjektiv. Eine Objektivierung archivischer Bewertungen setzt erst dann ein, wenn die zukünftigen BenutzerInnen beteiligt werden. Er war sehr tröstlich, dass genau dies von Keitel in Regensburg für genuin digitale Unterlagen gefordert wurde.
Eine objektive Bewertungsentscheidung wird es nie geben, nur sollten sich die Archivare nicht noch bewusst dem Vorwurf aussetzen, die Bewertungsentscheidung auf Basis persönlicher Wissenschafts-/Forschungsinteressen getroffen zu haben, sondern soweit wie möglich objektivieren und sei es durch die Nutzung standardisierbarer Bewertungsmodelle oder Dokumentationsprofile. Hans Booms hat den Weg zum Archivtag 1972 aufgezeigt, dieser ist weder inaktuell noch vollendet, sondern kann ein Ziel sein.
Insbesondere vor dem Hintergrund der allgemeinen Erschließungsrückstände und Mängeln in der Bereitstellung von Archivgut oder Nutzung entspr. Technologien und sei es nur eine der technischen Entwicklung entsprechende Webrecherche oder die Frage der elektronischen Archivierung, sollten sich Archivare als Dienstleister, Records Manager etc. verstehen aber beileibe nicht als Wissenschaftler oder Forscher, hierfür gibts Historiker etc.
PS: ohne eine sinnvole Auswertung und Wiederauffindbarkeit – ich denke hier mit Grausen an die Rechechermöglichkeiten in Archivalia ist ein Blog reichlich sinnfrei, ebenso wie eine mangelnde Integration in bestehende IT-Verfahren, sprich eine geschäftsorientierte Nachnutzung und sei es nur im Kontext IWM die Web 2.0-Tools zur Spielerei verkommen lässt und ihre Potenziale ungenutzt lässt. Genau dieser Punkt scheint mir in der gesamten Diskussion zu diesem Thema zu kurz zu kommen und ist doch gerade ein zentraler Erfolgsfaktor wie negative Erfahrungen in der öV zeigen…
@Archivar
(1)Sehe nur ich ein Missverständnis zwischen „dem Vorwurf aussetzen, die Bewertungsentscheidung auf Basis persönlicher Wissenschafts-/Forschungsinteressen getroffen zu haben“ und „Eine Objektivierung archivischer Bewertungen setzt erst dann ein, wenn die zukünftigen BenutzerInnen beteiligt werden.“? Die Beteiligung der zukünftig Nutzenden ist eine (!) Basis auf der Bewertung erfolgen muss. Sie fließt optimal in die Dokumentationsprofile oder Archivierungsmodelle ein. Nur wo geschieht denn die Beteiligung in einem befriedigendem Maße? Aus der Froschperspektive eines kleinen Kommunalarchivars sind mir keine Beispiele bekannt – es sei denn ein Forscher muß als Feigenblatt herhalten.
(2) Welches Blog bietet mehr als eine Volltextsuche ? Eine Blog ist keine Datenbank, soll auch keine sein. Darf ich um eine vertiefende Erläuterung von „geschäftsorientierter Nachnutzung“ bitten? Ich würde es für sinnvoll halten diese Diskussion auf Archivalia zu führen, denn sie ist hier off topic.
Der Satz: “Eine Objektivierung archivischer Bewertungen setzt erst dann ein, wenn die zukünftigen BenutzerInnen beteiligt werden.”? stammt nicht von mir und ich halte die Beteiligung von Nutzern für unrealistisch, denn welche wollen Sie beteiligen? Die heutigen, die in 50 Jahren – keiner weiß, was Nutzer in 50 oder 100 Jahren interessiert, so wird Bewertung faktisch zur Glaskugel. Empirische Studien können hier sicher unterstützen, ähnlich wie darauf basierende Dokumentationsprofile, doch letztlich bleibt Bewertung immer subjektiv, sie sollte jedoch soweit wie möglich objektiviert und damit auch Beeinflussungsmöglichkeiten minimiert werden – genau diese Beeinflussung ist aus meiner Sicht, bei selbst forschenden ArchivarInnen erscheint mir dies immanent.
Der Satz stammt selbstreden von mir.
Bewertung ist also subjektiv – siehe auch meinen Kommentar Nr. 2. Sie wird durch die Nichtbeteiligung der künftigen NutzerInnen aber objektiver, weil nur ein Archivar bewertet, ohne auf Nutzungsinteressen zu achten. Dies widerspricht meiner Kenntnis zumindestens der baden-württembergischen Bewertungspraxis sowie der Praxis der BKK bei der Erarbeitung der Dokumentationsprofile. Selbst das Landesarchiv NRW hat für seine Archivierungsmodelle die Forschung beteiligt.
Nochmal Keitel hat die direkte Beteiligung bei Bewertung digitaler Unterlagen gefordert.
Auf den flapsigen Einwand über die Ermittlung zukünftiger Nutzungsinteressen brauche ich wohl nicht einzugehen, oder?