Die freie Enzyklopädie Wikipedia ist längst schon Teil des wissenschaftlichen Alltags geworden. Wikipedia wird von Dozierenden ebenso genutzt wie von Studierenden, ist Steinbruch für eigene Texte und ein medialer Grossversuch zugleich. Fluch oder Segen? Im Rahmen des medienpraktischen Kurses «Schreiben für Wikipedia. Eine medienpraktische Einführung mit theoretischen Bezügen» laden das Institut für Medienwissenschaft und das Historische Seminar der Universität Basel zu einem öffentlichen Werkstattgespräch ein.
Datum: Freitag, 20. April 2007
Ort: Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel, Bernoullistrasse 28 (Lageplan)
Programm:
13:00 Prof. Dr. Christoph Tholen (ifm) und Dr. Peter Haber:
Begrüssung und Einführung
13:30 PD Dr. Maren Lorenz (Uni Hamburg)
Wikipedia. Zum Verhältnis von Struktur und Wirkungsmacht eines heimlichen Leitmediums
14:00 lic. phil. Jan Hodel (PH Nordwestschweiz)
Didaktische Überlegungen zum Nutzen und Nachteil von Wikipedia
14:30 Dr. Andreas Ineichen / lic. phil. Suzanne Schaer Pfister (Historisches Lexikon der Schweiz)
Vom Schreiben eines Fachlexikons in den Zeiten von Wikipedia
15:00 Pause
15:15 Diskussion und Thesen
16:00 Ende
Das Programm als PDF.
„Wikipedia wird von Dozierenden ebenso genutzt wie von Studierenden“
Was ist eigentlich aus den Dozenten und den Studenten geworden, wurden die abgeschafft? Dozieren und studieren sind ja erstmal nur Tätigkeiten, dazu muss man nicht zwingend Dozent oder Student sein.
Die Dozierenden unterscheiden sich – zumindest in diesem Punkt – hoffentlich von den Studierenden dadurch, dass sie sich im Laufe ihrer Ausbildung ein methodisches Grundwissens angeeignet haben, das es ihnen möglich macht, Material, das zur Verfügung steht, zu kontextualisieren. In der Geschichtswissenschaft heisst dieses Verfahren seit einiger Zeit (es dürften ca. 150 Jahre sein, seit die moderne Geschichtswissenschaft sich formiert hat) „Quellenkritik“.
Ohne Quellenkritik lässt sich in der Geschichtswissenschaft keine Proseminararbeit schreiben, und das ist gut so. Und hat sich auch nicht verändert.
Was sich verändert hat, ist der Zugang zu Infomationen und dabei ist die grösste Veränderung, dass der Kontext nicht immer einfach zu erkennen ist. Das ist sozusagen die Ausgangslage. Und nun ist die Frage, wie Dozierende den Studierenden diese Kenntnisse vermitteln können, zumal viele Dozierende diese neuen Instrumente gar nicht kennen und sie vor allem nicht mehr die Zeit haben, sich mit den Texten, die von den Studierenden erstellt werden, kritisch zu befassen.
Das hat mit Medienkompetenz zu tun, aber es hat auch mit den neuen Studienformen zu tun.
Ich glaube, die Frage von Carbidfischer zielte in eine andere Richtung: ich habe auch schon in Deutschland etwelches Befremden bei der Bezeichnung „Dozierende“ oder „Studierende“ angetroffen. Offenbar klingt der helvetische Versuch in deutschen Ohren unvertraut, die sprachliche Gleichberechtigung etwas einfacher zu formulieren, als von Dozent/innen oder von Dozentinnen und Dozenten zu sprechen. Darüberhinaus ist es in Deutschland auch weniger üblich von Dozenten zu sprechen, viel öfter wird der Status genannt: Professoren, Assistentinnen und Assistenten (und nicht wie in der Schweiz Assistierende) usw. Wir meinen mit Dozierende alle jene, die „lehren“, die also die Verantwortung für Lehrveranstaltung diverser Couleur haben: Tutorien, e-Learning-Umgebungen, Proseminare, Seminare, Übungen, Vorlesungen usw.
War es das? Stimmt das? Ich lass mich gerne ergänzen & korrigieren.
@Jan Hodel: Ja, das war es. In Deutschland gibt es mittlerweile aber auch eine Studierendenschaft, die sich in einer Studierendenvertretung artikuliert.
Ich war beim Werkstattgespräch leider nicht dabei. Was mich aber wirklich interessieren würde jenseits aller (nein: neben allen) Fragen nach Authentizität, Verlässlichkeit, Reproduzierbarkeit ist unter spezifisch didaktischen Gesichtspunkten die Frage, ob mittels der Diskussions-Seiten von Wikipedia (und ähnlichen Projekten) das (nicht nur geschichts-) didaktische Konzept der „Kontroversität“ besonders in Wert gesetzt werden kann.
Das Konzept basiert ja auf der theoretisch einsichtigen Vorstellung, dass es nicht die eine wahre Geschichte gibt, sondern jeweils perspektivisch und kulturell sowie wertend unterschiedliche, und dass es so zu einer Mehrzahl von nicht immer spannungsfrei miteinander kombinierbaren Re-Konstruktionen kommt.
Für den Geschichtsunterricht wird -in Anlehnung an den Beutelsbacher Konsens (1976)- dann gefordert, dass, was in Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers thematisiert werden müsse, damit Schülerinnen und Schüler lernen, mit eben diesen Kontroversen in der Gesellschaft umzugehen (so zumindest unsere kompetenztheoretische Vorstellung; vgl. Schreiber/Körber 2006).
Im Rahmen der konventionellen Unterrichtsmedien kann dieses geschehen, indem in diesen „typische“ Positionen einander gegenüber gestellt werden (wenn es auch noch immer zu wenige wirklich multiperspektivisch und kontrovers angelegte Quellensammlungen gibt), und, indem die Schülerinnen und Schüler mit oder ohne Hilfe in ihrer Umgebung solche Deutungs-Kontroversen entdecken.
Wird das mit Wikipedia anders und leichter? Stellen die Diskussions-Seiten eine relevante Auswahl relevanter und repräsentativer Perspektiven und Kontroversen dar? Gibt es also durch Wikipedia weniger auf den Haupt-Seiten, sondern mehr auf den Debatten-Seiten einen Zugriff auf die Realität des Deutungsgeschäfts (Vgl. meinen Vortrag in Schleswig)?
Und – daran anschließend – welche Konzepte und Kategorien sowie methodische Fähigkeiten müssen entwickelt und gefördert werden, um in diesen doch nicht spezifisch vorstrukturierten Debatten die relevanten Perspektiven zu entziffern, ihre Deutungen zu de-konstruieren und diskutierbar zu machen?
Hier wäre es z.B. sinnvoll, an konkreten historischen Themen einmal die Debattenseiten zu analysieren, um exemplarisch zu erarbeiten, ob diese das oben geschilderte Potential haben, oder ob sie sich doch eher als Spielwiese für abstruse Detaildiskussionen von ‚Freaks‘ oder für politische Grabenkämpfe erweisen? [Damit soll nicht gesagt sein, dass das nicht gerade relevante Diskussionen ergibt, wer aber etwa die Debatte um Illigs These zwischen dessen Adepten Günter Lelarge und einer weitgehend wechselnden Gruppe eher wissenschaftlich argumentierender Teilnehmer in einer newsgroup kennt, kennt auch die politischen Publikationen).
Gruß
Andreas Körber
Interessanterweise hat eine Gruppe von Lehramtsstudierenden in meiner Lehrveranstaltung im letzten Sommersemester genau die gleiche Frage gestellt, wenngleich auch nicht ganz so theoretisch fundiert und elaboriert. Und erfreulicherweise sogar beschlossen, diese Frage zum Thema ihrer Diplomarbeit zu machen. Allerdings wird sich dort die Frage auf einer etwas grundsätzlicheren, deswegen aber nicht weniger aufschlussreichen Ebene bewegen. Die Studierenden wollen nämlich ermitteln, welche Denkprozesse die Auseinandersetzung mit den Wikipedia-Diskussionen bei den Schüler/innen ganz generell auslösen kann. Es wird interessant zu sehen sein, ob hier Erkenntnisprozesse im von Andreas Körber angesprochenen Sinne zu erkennen sind, oder ob die Schüler/innen der Sekundarstufe 1 schon nur mit dem Verstehen der Diskussionen überfordert sind.
Vgl. dazu auch den separaten Eintrag „Geschichtslernen mit Wikis und Wikipedia“.
Was Andreas Körber «so theoretisch fundiert und elaboriert» formuliert hat, trifft den Kern der Sache recht gut. In der Tat können wir als Historiker (und vermutlich auch als Geschichtsdidaktiker) Wikipedia im Moment auf verschiedenen Ebenen analysieren:
(1) Zum einen lassen sich – auf der textlichen Oberfläche gleichsam – Trends und Konjunkturen des Historischen qua in Wikipedia publizierter Textmenge analysieren. Interessant, aber wohl recht aufwändig, wären auch historische Trendforschungen in einem internationalen Vergleich.
(2) Dann gibt es aber die Ebene der Versionen, wo sich die Kadenz der Überarbeitungen ebenso auswerten liesse wie die Zahl und eventuell die soziale oder sonstige Varianz der Beitragenden.
(3) Und schliesslich wäre die Ebene der Diskussionsseiten zu analysieren. Das sind dann in etwa die Leserbriefspalten der Tageszeitungen, wo ja auch immer wieder heftig über historische Themen gestritten wird – mit der gleichen nicht vorhandenen Repräsentativität, nach der Körber gefragt hat.
Interessant an Wikipedia ist, dass man einen Teil dieser Analysen automatisiert (oder zumindest maschinenunterstützt) durchführen kann. Die Tools sind zum Teil schon da, was aber noch fehlt, sind methodische Standards der Datenerhebung und -analyse, um die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen vergleichbar zu machen.
Es bleibt zu hoffen, dass die empirische Sozialforschung sich des Themas einmal annimmt.