Die bisherigen Ergebnisse des Forschungsseminars «Wikipedia und die Geschichtswissenschaften» sind ernüchternd. Eine Untersuchung von rund zwanzig geschichtswissenschaftlichen Einträgen in der deutschen und der englischsprachigen Wikipedia hat gezeigt, dass die Qualität der Texte sehr schwankend ist, die unterschiedlichen Sprachversionen sehr voneinander abweichen und dass gerade bei komplexeren Themen sich Wikipedia keineswegs als Einstieg eignet.
Für die Untersuchung hatten wir – ausgehend von aktuellen enzyklopädistischen Diskussionen – gemeinsam ein Kriterienraster entwickelt und uns auf ein einheitliches Vorgehen geeinigt. Untersucht wurden Lemmata aus den (von uns definierten) Kategorien «Begriffe», «Epochen», «Ereignisse», «Personen» und «Methoden».
Die in der letzten Juniwoche zuerst intern und dann an einem öffentlichen Werkstattgespräch präsentierten Ergebnisse werden von den Projektmitarbeitenden zur Zeit zu ausführlichen schriftlichen Berichten ausgearbeitet und voraussichtlich Ende Jahr als e-Publication öffentlich zugänglich gemacht.
Aber schon die bisher vorliegenden Ergebnisse lassen einige Trends erkennen: Auf der formalen Ebene konnten wir beobachten, dass die Textlänge keineswegs mit der Qualität der Inhalte korreliert. Aufgefallen ist dabei, dass die englischen Einträge oftmals länger und zumeist besser strukturiert waren, als die deutschsprachigen.
Bemerkt haben wir in zahlreichen Fallbeispielen auch, dass fremdsprachige Literatur nur selten verwendet wird. Hin und wieder gab es zwar sprachübergreifende Literaturlisten, die effektiv verwendete Literatur war nur selten mehrsprachig. Für Texte, die sich in einem wissenschaftichen Umfeld platzieren, ist das natürlich bedenklich.
Bei der Visualisierung historischer Themen sind uns sehr unterschiedliche Themensetzungen in den verschiedenen Sprachversionen aufgefallen. Das Lemma «Kalter Krieg» ist zum Beispiel in der deutschsprachigen Verison eingangs mit einen nüchternen Karte illustriert, …
…während die englische Version mit den Herren Reagan und Gorbatchev vor dem Kaminfeuer ein harmonisches Ende des Kalten Kriegs zu visulisieren versucht.
Interessant auch die russische Wikipedia, die eine teils recht abstruse Auflistung der Blockzugehörigkeiten als visuellen Einstieg ins Thema wählt.
Generell lässt sich sagen, dass inbesondere Einträge zu Personen und Ereignissen Gefahr laufen, von nationalen Sichtweisen beeinflusst zu werden.
Ein schönes Beispiel war der Eintrag zum Engelbert Dollfuss, einem der führenden Austrofaschisten der Zwischenkriegszeit. Der Mann war sehr klein – was in der englischen Wikipedia ausführlich und in mokantem Ton erwähnt wird. Dollfuss, kann man hier lesen, sei in Anlehnung an Metternich «Millimetternich» genannt worden. In der deutschsprachigen Fassung wird die Körpergröße nur mit einem Halbsatz erwähnt, obwohl der Text insgesamt viel länger ist.
Epochenbezeichnungen oder abstrakte historische Begriffe sind für solche Verzerrungen, so unser Eindruck, weniger anfällig.
Am bemerkenswertesten war, dass sich gezeigt hat, dass die landläufige Meinung, Wikipedia-Texte eigneten sich als Einstieg in ein Thema, widerlegt werden konnte. Je komplexer ein Thema ist, desto grösser ist das Risiko, dass der Artikel nicht als Einstieg taugt. So stellen wir fest, dass das Lemma «Frühmittelalter» strukturlos und voller Lücken ist. Für Anfänger ist ein solcher Text nur sehr schwer verständlich, wenn nicht gar irreführend.
Oder – ein anderes Beispiel – der Artikel zu «Aufklärung»: Hier wird die Vielschichtigkeit des Begriffes ausgeblendet – dass mit «Aufklärung» sowohl eine Epoche als auch eine geistige Bewegung gemeint ist, wird für den unbedarften Wikipedia-Leser nicht deutlich.
Fazit: Viele geschichtswissenschaftliche Einträge der Wikipedia haben uns enttäuscht und bergen noch ein grosses Optimierungspotential.
Das Forschungsseminar in Wien war als Teil eines Forschungsframeworks zum Thema Wikipedia und die Geschichtswissenschaften konzipiert, das Jan Hodel und ich Ende 2009 in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte publiziert hatten. Darin skizzierten wir vier mögliche Herangehensweisen an die Thematik:
- Eine Untersuchung der sozialen Interaktionen bei der Erstellung und Nutzung von Wikipedia.
- Ein inhaltsanalytischer Vergleich geschichtswissenschaftlicher Lemmata.
- Eine algorithmisierte Analyse inhaltlicher Strukturen und Metadaten von Wikipedia.
- Eine historiographiegeschichtliche und epistemologische Verortung von Wikipedia.
Im Rahmen des Wiener Seminars stand der inhaltsanalytische Vergleich einzelner, stichprobenartiger geschichtswissenschaftlicher Lemmata im Vordergrund. Die sozialen Interaktionen wurden zwar in Form der Diskussionsseiten ebenfalls ausgewertet, standen aber nicht im Mittelpunkt der Untersuchung. Die algorithmisierte Auswertung der Wikipedia-Metadaten stand ebenfalls nicht im Zentrum, wurde aber gelegentlich angewandt.
Ohne Zweifel wird es in Zukunft darum gehen, den vierten, bisher noch unberücksichtigt gebliebenen Ansatz auszuarbeiten. Darüberhinaus wird es unumgänglich sein, solche inhaltsanalytischen Arbeiten auf eine stabilere methodische Basis zu stellen und zu standardisieren, um auch Quervergleiche von verschiedenen Untersuchungen zu ermöglichen.
Das bisher recht erfreuliche Medienecho lässt hoffen, dass das Thema auch in Zukunft die notwendige Aufmerksamkeit erfährt und das Phänomen Wikipedia auch zehn Jahre nach dem Start des Projektes weiterhin kritisch beforscht wird.
Sämtliche Materialien und Zwischenergebnisse sind übrigens in unserem Wiki öffentlich zugänglich.
Wikipedia-Kritik ist notwendig und sicherlich angebracht. Die aufgeführten Beispiele überzeugen aber nicht. Warum soll man „ausführlich“ auf Dollfuss‘ Körperlänge eingehen? Haben „mokante“ Bemerkungen in Enzyklopädien etwas zu suchen? Ist es tatsächlich sinnvoll, den Kalten Krieg mit Reagan und Gorbatchow zu bebildern? Genauso hätte man ein Bild von Kennedy und Chroustchow zeigen können.
Die unterschiedliche Behandlung und Aufbereitung der unterschiedlichen Wikipedia-Einträge ist sicherlich interessant. Aber was sagt dies über die Qualiät des jeweiligen Eintrages wirklich aus? Und zum Schluss: Wenn man von den Einträgen „enttäuscht“ ist (ein höchst subjektives Kriterium), hätte man zumindest einmal formulieren müssen, worin die Erwartungen liegen.
Genau: man soll natürlich nicht ausführlich auf Dollfuss‘ Körperlänge eingehen! Wir haben das unter der Kategorie «Trivia» abgebucht, das heisst, in der englischsprachigen Version – das unser Befund – wurden Nichtigkeiten ohne wissenschaftliche Relevanz hervorgehoben, die wohl auf nationale Ressentiments schliessen lassen und die in der deutschsprachigen Version nicht vorkommen.
Bei den Bildern ging es um die Frage, mit welchem visuellen Fokus die Themen aufbereitet wurden.
Unsere Erwartungen haben wir selbstverständlich formuliert – einerseits in einem offenen Brainstorming-Prozess, andererseits – und als Ergebnis der ersten Runde – in Form eines Kriterienrasters. Daneben haben wir auch bisherige vergleichende Untersuchungen analysiert und weitere Vergleichsgrössen in unsere Arbeit einfliessen lassen.
Ich gebe Ihnen sofort Recht wenn Sie meinen, dass im Geschichtsbereich (aber sicherlich nicht nur dort) in der WP noch vieles zu verbessern ist, keine Frage. Nur: das wissen die Wikipedianer ja selbst oft genug. Einige Versuche, die Schwachstellen zu beheben, sind auch vorhanden (wie die Redaktionen, die freilich nicht alles geradebiegen können). Der Artikel Frühmittelalter etwa, der von Ihnen kritisiert wurde, ist ohne Zweifel unzureichend, aber die Kritik ging schon von Wikipedianern aus. Das Hauptproblem ist, dass eine komplette Neufassung von einem einzelnen Benutzer da kaum zu leisten ist und selbst in Fachlexika wird das kaum einen Bearbeiter zugemutet. Bei anderen Epochenartikeln sieht es nebenbei durchaus besser aus.
Möglicherweise wird auch eine falsche Erwartungshaltung vermittelt: manchen Lesern sind Artikel zu umfangreich, andere wollen selbst bei detaillierten und sachlich fundierten Artikeln noch andere Punkte behandelt sehen, die eher das Thema von Fachartikeln sind. Was mich an der hier vorgestellten Untersuchung etwas stört: es wird eine recht schematische Kritik betrieben, wobei mir nicht ganz klar ist, ob die Artikelauswahl rein zufällig zustande kam. Dass der Inhalt des Artikels Frühmittelalter kritisiert wird, ist sicherlich richtig, bei der Kritik der Lit bin ich aber skeptischer, da dort etwa mit der NCMH das umfassendste Kompendium für diesen Zeitraum genannt wird, mit umfangreicher Bibliographie – ebenso wie neuere Überblickswerke. Das lässt sich ohne Zweifel ausbauen, aber einfach als Kritik zu schreiben „zusätzliche Literatur erforderlich“ ist offen gesagt auch nicht sehr differenziert.
Eine sehr interessante Studie, mit der ich mich noch näher beschäftigen möchte. Ich frage mich allerdings, ob man von „nationalen Sichtweisen“ sprechen kann, wenn in der en.WP über die Körperlänge von Dollfuss gesprochen wird. Ist es denn „typisch englisch“, sich in Biografien über Körpergrößen zu mokieren? Hier müsste man eine größere Anzahl von Befunden ähnlicher Art haben, um eine Tendenz auszumachen.
Die Studie stellt auch die Frage nach dem Wesen der Wikipedia. Sie ist dem Anspruch nach eine Enzyklopädie, ohne Frage, aber soll sie auch als Einführungsliteratur für den interessierten Laien oder für den Studienanfänger dienen?
Ich freue mich über die kritische Berichterstattung zur Wikipedia. Für meinen Geschmack wird viel zu oft Wikipedia als sehr gut dargestellt.
Extern wird Wikipedia regelmäßig unreflektiert von Medien als Quelle genutzt und damit im Zweifel falsches weiterverbreitet. Abgesehen von Schülern und sogar Studenten die Wikipedia als Quelle für ihre Arbeiten nutzen.
Intern ist der Glaube an die Perfektion zwar m.E. kritischer, aber auch hier wirkt fehlende fundierte Kritik.
Interessant ist auch „englischen Einträge oftmals länger und zumeist besser strukturiert waren, als die deutschsprachigen.“ – dieses Bild ist in der Wikipedia nicht vorhanden. Zugleich zeigt aber „… englischen Wikipedia ausführlich und in mokantem Ton erwähnt wird….“, dass sich die Qualität nicht verallgemeinern lässt.
Schade ist natürlich, dass nur 20 Artikel untersucht wurde. Als repräsentativer Querschnitt natürlich viel zu wenig. Trotzdem: danke!
Wikipedianer:Sicherlich
Wikipedia Unterschiede in deutsch und englisch!
Ich werde das komische Gefühl nicht los, dass in der angelsächsischen Wikipedia Wissenschaftler schreiben, während sich in der deutschen eher Schüler herumtreiben und dort ihre pisageschädigten Leseergebnisse veröffentlichen. Als Autor einer Biographie war ich total verduzt, wie da ein Autor die Person beschrieb, üüber die ich promoviert habe. Entweder er hat meine Arbeit nicht gelesen oder er hat sie nicht verstanden.
So funktioniert leider Wikipedia.
Klassische Enzyklopädien wurden dadurch plattgemacht und jetzt feiert das Halbwissen fröhliche Urstände.
Dass Wikipedia allein nicht als Literatur genügt, ist selbstverständlich. Höchst bedauerlich ist allerdings, dass die Artikel nicht als Einstieg in ein Thema taugen, dies hielt ich zusammen mit den ausgewählten Weblinks bisher für gegeben. Auf Mängel bei zentralen Artikeln wie Demokratie habe ich selbst schön öfter hingewiesen, dass auch (im globalen Kontext) Artikel über randständige Figuren der Zeitgeschichte so schlecht sind, enttäuscht ein wenig. keep the good work on
–Sargoth
IMHO the most important sphere of analyze could be not question about the historical truth in Wikipedia articles, but the case of national influence on this materials. But I wonder if it is any effective tool or method to do this. I am not convinced by the exemple of Engelbert Dollfuss entry.
Fachliche Analyse und faire Kritik ist auf jeden Fall wünschenswert, dafür erstmal einen Dank.
Die Ergebnisse verwundern allerdings nicht, wenn man mit den Gegebenheiten in der Wikipedia vertraut ist. Die wesentlichen Mängel sind durchaus bekannt und werden diskutiert. Zum Teil sind sie systembedingt und daher schlecht auszuräumen.
Allgemein gehören die Geisteswissenschaften nicht zu den starken Seiten der Wikipedia. Das hat (so meine Vermutung) mit der Zusammensetzung der aktiven Wikipedianer zu tun. Die sind überwiegend jung, männlich und technikaffin, naturwissenschaftlich gebildet.
Was die häufiger mangelhafte Qualität von Hauptartikeln angeht, spielt das Wiki-Prinzip eine wichtige Rolle. Oder genauer: die Abwesenheit von echten Redaktionen. Die wären aber vorteilhaft für die Bewältigung solcher komplexer Aufgaben, auch zur leserfreundlichen Strukturierung. So ist es aber von Glück und Zufall abhängig, ob solche Hauptartikel gelingen oder nicht. Es gibt auch nur wenige Wikipedianer, die die Qualifikation und/oder die Ausdauer mitbringen, solche Artikel zu stemmen. Je nach Fachgebiet kann das auch schon mal gar keiner sein. Es müssten also mehr fachlich qualifizierte Leute mit dieser Ausdauer bereit sein, mitzumachen, um das zu verbessern. Ich würde mir so etwas wünschen. Als Begleitprojekt zu einem Seminar könnte ich mir das z. B. vorstellen (falls der heutige Uni-Betrieb dafür noch Freiräume lässt).
Noch ein Wort zum (hier nicht erwähnten) Diskussionsstil in der Wikipedia: Der ist tatsächlich nicht immer erfreulich. In Foren und Mailinglisten geht es ähnlich zu, das ist vor allem ein Phänomen der immer noch neuen Kommunikationsformen mit ihrer mehr oder weniger vollständigen Anonymität, ihrer reinen Schriftlichkeit verknüpft mit einer mit Gesprächen vergleichbaren Schnelligkeit. Das geht öfter mal schief. Da helfen nur Gelassenheit und ein dickes Fell.
Der kritische Ansatz ist sehr richtig! Niemals Wikipedia 100% trauen. Für mich ist allerding ein ganz anderer Ansatz hier wichtig: Im deutschprachigen Raum sind Geisteswissenschaftler dafür bekannt, dass sie eben nicht wie in angelsächsischen Ländern der Allgemeinheit Wissen vermitteln müssen. Dies ist der eigentliche Grund für die schlechte Qualität. Wikipedia spricht unsere academia nicht an. Anstatt ständig das Phänomen Wikipedia zu beklagen, sollte man machen! Warum nicht den Studierenden je Hausarbeit auch die Aufgabe mitgeben Wikipedia zu verbessern? Ich selbst habe meine Hausarbeiten peu a peu in WP eingearbeitet. Frage nicht was Wikipedia für Dich tun kann, frage was Du für Wikipedia zu kannst! Alles andere erinnert an die Frustration eines Mönches über den Buchdruck… Und noch etwas: schon einmal die Geschichtsbücher in Deutschland und Österreich verglichen? Auch innerhalb des deutschen Bildungsföderalismus? Oder ein Vergleich von History Channell und Guido Knopp? Da ist WP sicher weiter! Mein Wunsch zum Schluss: Ein Projekt: Wie können Geschichtswissenschaftler endlich vom Elfenbein heruntersteigen und auch für das breite Volk Wissen zur Verfügung stellen? 😉 Gruß eines Piefkes (der WP-Art. ist klasse!) B.Hü
@Millimeternich
Weil ich es gerade lese. Vocelka erwähnt in seinem Standardwerk zur Österreichischen Geschichte (Karl Vocelka, Geschichte Österreichs, Graz/Wien/Köln 2000, S. 289) ebenso die geringe Körpergröße von Dollfuss in seiner Infobox zu dieser Person (Weit ausführlicher als in der deutschen Wikipedia Version zu Dollfuss). Bleibt die „Nichtigkeit ohne wissenschaftliche Relevanz“ ebenso nichtig, wenn sie gedruckt publiziert wurde?
Wird sie wichtiger, wenn sie zitiert wird?
@Pete: Der Punkt ist, dass das erwähnte Buch rund 400 Seiten Umfang hat und dort die Ausführungen über Dollfussens Grösse einen anderen Stellenwert haben, als in einem recht knappen Enzyklopädie-Eintrag. Bezeichnenderweise fehlt in der «Kurzfassung» des Buches, im Beck-Bändchen «Österreichische Geschichte» von Vocelka (München 2005 ff.) dieser Hinweis, wenn ich mich recht entsinne. Es geht also um die Gewichtung.