Brandenburg will Geschichtsunterricht im Rückwärtsgang einführen

Die spinnen, die Brandenburger! Weil die Schüler in Brandeburg zu wenig über die DDR wüssten, will man vom chronologischen Geschichtsunterricht wegkommen, wie Daniel Eisenmenger in seinem Blog berichtet:

Brandenburg plant ab dem Schuljahr 2011/12 den chronologischen Durchgang zugunsten von Themenfeldern aufzugeben, so dass u.a. die DDR-Geschichte früher behandelt werden kann. Diese soll dann auch schon in Klasse 7 Thema werden im Themenbereich «Schule in Diktatur und Demokratie», also einem schülernahen Erfahrungsraum. Ausgelöst wurde die Änderung durch den Befund, dass Schüler so wenig über DDR-Geschichte wissen. Ähnliches gilt wohl auch für andere Gebiete.»

Wieso nicht gleich konsequent die Geschichte rückwärts erzählen? Dass also auf den Realsozialismus der Nationalsozialismus folgt und dann die Weltwirtschaftskrise! Wir schlagen vor, dass konsequenterweise in Brandenburg in Zukunft das Bruchrechnen vor dem kleinen Einmaleins unterrichtet wird und der Französischunterricht mit dem gérondif II beginnt. Alternativ könnte man ja die Mathematik auch mit dem «Themenfeld» Dualsystem beginnen lassen und in der ersten Französisch-Stunde Foucault lesen. Zum Beispiel «Wahnsinn und Gesellschaft». Das wäre dann auch ziemlich «schülernah».

5 Gedanken zu „Brandenburg will Geschichtsunterricht im Rückwärtsgang einführen“

  1. Ich versteh die (begründungsfreie) Suada gegen die Brandenburger Idee nicht. Da kämpft die Geschichtswissenschaft nun seit gut 150 Jahren gegen die reine Ereignisgeschichte, und sobald mal der oft genug dröge und erzlangweilige Geschichtsunterricht thematisch sinnvoll auf den Kopf gestellt wird, kommt eine reflexartige Abwehr. Welches lesenswerte Buch eines (sagen wir einmal: nichtdeutschsprachigen) Historikers der letzten 30 Jahre fängt bei den Römern an und hört bei Adenauer auf? Welches ist überhaupt noch chronologisch gegliedert? Mir fallen nicht arg viele ein.

    Man könnte und sollte Geschichte m. E. durchaus anders vermitteln als von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Es gibt so viele Einstiege, die an die Lebenswirklichkeit der Schüler angepasst sein könnten. In einer mittelalterlichen Stadt ist ein Einstieg über die Heimatkunde vielleicht sinnvoll, im Ruhrgebiet über die Industriekultur, in einer thüringischen Residenzstadt über die Hochblüte der Kleinstaatlichkeit. Von da aus dann zurück oder vorwärts, thematisch oder chronologisch. Ich kenne einen Lehrer, der den Geschichtsunterricht gerne mit deutscher Kurrentshrift beginnt, Schüler alte Dokumente von Großeltern mitbringen lässt, die Schüler schreiben lehrt (die dann die anderen ignoranten Lehrer mit einer Geheimschrift erfreuen können). Ich bin weder Historiker noch Didaktiker, aber mir fiele jedenfalls so manches ein, was ich meinen eigenen Erfahrungen im traditionellen Geschichtsunterricht definitiv vorziehen würde. Es geht doch heute in der Schule letztlich überall nur noch darum, Interesse zu wecken und zum Selbstweiterlernen anzuregen. Wenn das Interesse erst einmal geweckt ist, kann man die Grundlagen auch gekonnt einfließen lassen, aber dann wird Geschichte vielleicht nicht nur auswendiggelerntes Geschichtsbuch, sondern lebendiges Wissen und lebenslange Neugier. Dass man dafür die Lehrpläne am besten ganz abschaffen sollte, ist klar. Solche Ideen werden aber leider in Deutschland nur überforderten Nichtfachleuten wie Waldorflehrern überlassen, und die staatliche Schule macht Unterricht wie im Jahre 1890.

  2. Oh Hilfe! Ich habe Bücher über die Weimarer Republik gelesen, als in der Schule gerade noch as Mittelalter dran war. Ich bin doomed. Ansonsten verstehe ich den Text auch nicht so wirklich: glaubt der Autor ernstlich Kinder und Jugendliche würden nichts über Geschichte außerhalb der Schule mitbekommen und seien deshalb überfordert wenn sie gedanklich springen müssten? Gibt es eine pädagogische Grundregel, dass Antike immer vor Opiumkrieg erzählt werden muss? Darf die Biologie Darwin nicht behandeln bevor die Geschichte im 19. Jahrhundert angekommen ist? Darf man in Deutsch vor der Oberstufe Literatur aus dem 20. Jahrhundert lesen?

  3. Der „Chronologische Geschichtsunterricht“ (NB: nicht „die Chronologie“ IM GU) ist durchaus ein Problem – und Alternativen daher sehr dringend erforderlich. Dass man „die Geschichte“ nur entlang ihres „realen“ Verlaufs erkennen und lernen könne, ist theoretisch untriftig.
    Wenn allerdings das „Vorziehen“ der DDR-Geschichte der einzige oder der Hauptgrund dafür wäre oder ist (ich habe es noch nicht selbst prüfen können. mein Argument gilt in beiden Fällen), dann wäre das durchaus mehr als problematisch, weil damit letztlich die Chronologie ex negativo bestätigt würde: Der eine Gegenstand, nein: das eine Thema, weil mit einer bestimmten Deutungsvorgabe behaftet, müsse „früher“ unterrichtet werden, damit es auch alle mitbekommen.
    Die Begründung (wenn sie es denn ist, wie bei Daniel Eisenmenger berichtet) klingt ganz nach den Thesen von Schroeder/Deutz-Schroeder, wonach die Kinder „zuwenig“ über „die“ DDR-Geschichte wissen, nämlich vor allem zu wenig darüber, dass die DDR „eine Diktatur“ war. Es geht also offenkundig vor allem um Deutungs- und Urteilswissen, das verlangt wird. Dass die Studie von Schroeder/Deutz-Schroeder das durchaus nicht sauber misst, sei dahingestellt. Die Frage ist vielmehr, ob solcherart verbindliches Deutungs- und Urteilswissen den Ansprüchen des Faches in freien Gesellschaften gerecht wird (Beutelsbacher Konsens). Wäre es nicht wichtiger, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, mit der Kontroverse um die Deutung und Beurteilung der DDR-Geschichte umzugehen, und sich dann frei in ihr zu positionieren? Also verpflichtend die verschiedenen Positionen und ihre Argumentationen kennen zu lernen und zu durchdenken, um dann abwägend, aber selbst zu urteilen?
    Das erforderte m.E. durchaus eine Abkehr des GU vom „chronologischen Durchgang“ und einen anderen Aufbau der Lernprogression, nämlich a) im Sine zunehmender Kompetenzniveaus UND b) ausgehend von jeweils gegenwärtigen Deutungs- und Urteilskontroversen die dazugehörigen Vorgeschichten sowohl der Deutungen als auch der „Realgeschichte“ zu erschließen.
    Diese derart zu behandelnden Kontroversen dürfen dann natürlich nicht nur solche der Zeitgeschichte sein, womit wieder die Frage nach der Reihenfolge um Unterricht aufgeworfen wird. Aber diese ist dann ganz anders zu behandeln: Es muss nicht unbedingt so sein, dass Kontroversen zur Beurteilung, sagen wir, der Sklaverei in der Antike früher zu behandeln wäre, weil sie „leichter“ oder „elementarer“ wäre als etwa die Kontroverse um Flucht und Vertreibung oder eben um die DDR als „Unrechtsstaat“ oder nicht. Das kann auch genau andersherum beantwortet werden, weil letztere Kontroverse in einiger Hinsicht leichter zugänglich ist (dafür aber nicht unbedingt einfacher zu erschließen).
    Wie man das im Einzelnen auch beantwortet: Der chronologische Aufbau des GU verhindert eher sowohl einen systematischen Kompetenzerwerb wie auch den sinnvollen Ansatz bei gegenwärtigen Deutungen.

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