Daniel Eisenmanger hat meinen polemischen Einwurf von gestern verdankenswerterweise ausführlich kommentiert. Er schreibt, wenn ich das ganz kurz zusammenfassen darf, dass es u. a. sinnvoll sei, einen chronologisch orientierten Geschichtsunterricht zu durchbrechen, gerade weil die Schülerinnen und Schüler von einer chronologischen Darstellung überfordert seien.
Als Beispiel nennt er die attische Demokratie, die im herkömmlichen Lehrplan im 7. Schuljahr thematisiert wird und wohl eher zwei Jahre später behandelt werden sollte, denn in «diesem Alter ist politische Teilhabe den Schülern wesentlich näher, weil eine gewisse Reife und ein Interesse an gesellschaftspolitischen Zusammenhängen wächst.»
Abgesehen davon, dass ich vermute, dass auch 13jährige Schülerinnen und Schüler sich mit der Frage der Partizipation beschäftigen, kann ich nicht so recht nachvollziehen, wie das Thema DDR vermittelt werden soll, wenn die Grundlagen der Demokratie nicht vorgängig diskutiert worden sind.
Es mag sein, dass dies – gerade beim Beispiel Demokratie – eine typisch schweizerische Sicht ist, aber mir scheint, man muss doch zuerst einige fundamentale Fragen erläutern, damit spätere Ereignisse sinnvoll und sinnbringend diskutiert werden können.
Zumindest gilt dies – so wage ich zu behaupten – für das Ensemble der abendländischen Geschichte, die in Deutschland wohl ebenso wie in der Schweiz den Grossteil des Geschichtsunterrichts ausmacht (ob dies sinnvoll ist, ist eine andere Frage).
Eisenmanger weiter:
Diese Methoden historischen Arbeitens könnten dann aufeinander aufbauend Teil eines historischen kompetenzorientierten Curriculums werden, das in themenzentrierten Kreisen ausgeht vom Individuum über den nahen Erfahrungsraum von Familie und Schule über die Stadt und Region hingeht zu Nationsbildung und Staatsaufbau. Die Themenkreise sollten natürlich in sich chronologisch gegliedert sein. Sie böten damit die notwendige Orientierungshilfe in der Zeit und würden nicht zu einer befürchteten Aufhebung der Historizität führen, sondern im Gegenteil gerade das Verständnis von historischen Entwicklungen und ihren Vergleich fördern und erleichtern.
Wenn ich an meinen eigenen Geschichtsunterricht zurückdenke, muss ich sagen, tönt das sehr verlockend! Ich hatte nämlich einen grottenschlechen Geschichtsunterricht, bestehend aus einer dürren Chronologie von Namen, Ereignissen und Schlachten (so dass ich erst im zweiten Anlauf es gewagt habe, Geschichte zu studieren …).
In der Tat sind die Vorschläge Eisenmangers attraktiv und dem Zeitgeist entsprechend. Ich kann mir auch vorstellen, dass es in einigen Punkten gelingen kann, Themen so aufzubereiten, wie Eisenmanger es andeutet.
Auf der anderen Seite sehe ich, dass der Geschichtsunterricht stundenmässig abgebaut wird, dass aufgrund des Lehrer/innenmangels demnächst wohl Leute mit einem BA-Abschluss in die Klassenzimmer geschickt werden und dass das, was Eisenmanger vorschlägt, im Grunde das Gegenteil benötigte: besser ausgebildete Lehrpersonen und mehr Aufmerksamkeit für das Fach Geschichte generell.
Und noch etwas: Was heisst kompetenzorientertes Curriculum? Heisst das, dass Geschichtsunterricht nicht mehr den Anspruch hat, ein historisches Grundwissen zu vermitteln?
Für mich ist der schulische Geschichtsunterricht kein abgespecktes Geschichtsstudium, sondern ein Propädeutikum. In den Gymnasien sollten die Jugendlichen sich ein historisches Grundwissen aneignen, mit dem sie dann später, sollten sie sich entschlossen haben, Geschichte zu studieren, kreativ arbeiten können.
Wenn im Geschichtsunterricht das behandelt wird, was den Schülerinnen und Schülern vermeintlich am nächsten ist – im Falle Deutschlands also offenbar die Geschichte der DDR – dann droht der Geschichtsunterricht zu einem postmodernen Befindlichkeitsgeplapper zu verkommen.
Mühe mit der Chronologie der Geschichte haben ja auch schon heute etwelche Zeitgenossen – wie antwortete doch der letztjährige Mister Schweiz, André Reithebuch, auf die Frage, wann der Zweite Weltkrieg gewesen sei: «Um 1900 herum, ich weiss es nicht.» Was den Blick träf formulieren liess: «Er hat grosse Füsse (Schuhnummer 48) – aber ein Spatzenhirn. Unser Mister Schweiz wird immer mehr zum Mister Peinlich!»
Für mich bedeutet „kompetenzorientiert“, dass man tatsächlich historisches Grundwissen vermittelt bekommt. Das Grundwissen ist für mich aber nicht das Inhaltsverzeichnis vom Kleinen Ploetz, sondern das Nachdenken über Vergangenheit und ihr Verhältnis zur Gegenwart, das Verständnis, dass Geschichte nicht in Stein gemeißelt vom Himmel fällt, sondern immer auch als erzählte „Geschichten“ verstanden werden muss, wenigstens eine vage Idee von Quellen (und zwar nicht nur zehn Zeilen einer edierten Textquelle im Geschichtsbuch).
Wenn «kompetenzorientiert» so definiert wird, kann ich dem sehr wohl zustimmen. Dass mit Grundwissen nicht der Ploetz und auch nicht ein sonstiges Nachschlagewerk gemeint ist, versteht sich auch von selbst.
Der Hinweis aber, dass «Geschichte nicht in Stein gemeisselt» ist, bedeutet, dass die Frage, wie Geschichte «gemacht» wird, thematisiert werden muss. Welches Grundwissen, welche Geschichtsbilder braucht es, um diese Frage mit Jugendlichen diskutieren zu können? Ich weiss es nicht.
Aus meiner persönlichen Einschätzung heraus würde ich sagen, dass ungefähr das, was Manfred Mai in seinem Büchlein «Weltgeschichte» oder Jacques Le Goff in «Die Geschichte Europas» erzählen. Praktiker aus dem Geschichtsunterricht mögen mich korrigieren, wenn das zu viel oder zu wenig sein sollte.
Meine Skepsis aber bezüglich nicht-chronologischem Unterricht bleibt bestehen, wenn ich an den engen Zeitrahmen denke, der heute dem Fach Geschichte noch übrig bleibt.
Und ob die Lehrpersonen einer solchen Herausforderung gewachsen sind, ohne in einen Beliebigkeitsdiskurs (oder gar in Geschichtsrevisionismus) abzudriften, ist mir auch nicht ganz klar. Aber vielleicht wissen auch hier die Praktiker/innen aus den Schulhäusern mehr.
Wenn ich die Unterhaltung unter ein paar Basler Lehrkräften unlängst richtig mitgehört habe, dann wird am Leonhard Geschichte bereits ungefähr à la Brandenburg unterrichtet: http://www.gymnasium-leonhard.ch/unterricht/facher/geschichte (ohne Gewähr!). Das werde aber von den anderen Gymnasien eher argwöhnisch beobachtet. Und übrigens existiere kein kantonsweit, geschweige landesweit verbindlicher Lehrplan für den Geschichtsunterricht in der Oberstufe. Das könne jedes Schulhaus handhaben, wie es wolle. Als Aussenstehender liess mich das doch irgendwie stirnrunzelnd zurück. Aber vielleicht hab ich auch nicht alles richtig verstanden…
Im Moment scheint es nichts Einheitliches zu geben, aber im Zuge der anstehenden Schulreform («HarmoS») soll auch ein einheitlicher «Lehrplan 21» entstehen, der in den Grundzügen bereits fest steht. Dort verschwindet das Fach Geschichte in einem Bereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften»:
(S. 20)
Peter Haber schreibt in seinem Posting, er könne „nicht so recht nachvollziehen, wie das Thema DDR vermittelt werden soll, wenn die Grundlagen der Demokratie nicht vorgängig diskutiert worden sind.“
Dieses Argument ist eine nähere Betrachtung wert. Es setzt „Grundlagen“ implizit mit „Ursprünge“ gleich. Somit ist es ein Paradebeispiel für die eine Hauptargumentation für chronologischen Geschichtsunterricht, dass man jeweils „das Frühere“ kennen müsse, um „das Spätere“ zu verstehen und darüber urteilen zu können. Da ist etwas dran. Aber ist es zwingend?
Zuende gedacht bedeutete es, dass man für *jeglichen* Gegenstand immer die Vorgeschichte benötigt. Man könnte also gar nirgendwo einsetzen, weil es immer ein Vorhergehendes zu betrachten gäbe.
Der zweite klassische Einwand dagegen betrifft die Lernprogression: Ist es so, dass die Bearbeitung einer Vorgeschichte mehrere Schuljahre vorher eine gute Grundlage für die Bearbeitung eines Themas Jahre später ist? Kann man derart „auf Vorrat“ lernen? Bestätigt die Schulerfahrung, dass einmal „Gehabtes“ in späterem Lernen tatsächlich zur Verfügung steht? Wohl eher nein. Ich denke eher, dass man gerade dann, wenn man die Verfügung über „die Vorgeschichte“ einer Idee, eines Konzepts, einer Struktur für nötig hält (und dafür spricht m.E. vieles) von der Chronologie als Anordnungsprinzip abweichen muss. Man müsste dann eher *anlässlich* der Bearbeitung eines Problems (hier: der Demokratie) die Vorgeschichte erarbeiten um „die Grundlagen“ zu sichern und zur Verfügung stellen. Daraus wird dann recht schnell ein Plädoyer für problemoriebtierte Längsschnitte.
Aber die Frage müsste noch grundsätzlicher betrachtet werden: Ist es wirklich so, dass die antike Demokratie „die Grundlage“ für die spätere Entwicklung der Demokratie gelegt hat? Sicherlich lebt der moderne Demokratiegedanke auch von der Kenntnis der antiken Vorläufer – aber nicht nur. Die Vorstellung, dass das, was in der griechischen Polis entwickelt wurden ist, „die“ Grundlage der heutigen Vorstelung wie der Probleme der Demokratie darstellt, ist zumindest ergänzungsbedürftig – und kritisch zu reflektieren. „Kannten die Griechen die Demokratie?“ fragte vor einigen Jahren der Althistoriker Christian Meier. Und die Frage ist berechtigt: die moderne Demokratie ist nicht einfach eine „Weiterentwicklung“ der antiken.
Wer die Kenntnis der Vorgeschichte als *Voraussetzung* für die Behandlung von Problemen der Demokratie setzt, geht (implizit) davon aus, dass es sich bei der Geschichte (hier: der Demokratie, aber wohl auch darüberhinaus) um eine _Entwicklung_ im wahrsten Sinne des Wortes handelt, nämlich die Entfaltung einer eigentlich vorgegebenen Idee. Dass demokratische Ideen und Gedanken auch aus anderen Traditionen gespeist werden, muss dabei nicht aus dem Blick geraten, erforderte dann aber, dass diese dann ebenso als Vorgeschichte thematisiert werden. Wieviele „Grundlagen“ müsste man dan machen – wann wäre es genug?
Auch von hier aus also Zweifel an der Konzeption, erst „die“ (eher wohl: die klassicherweise für die einzigen gehaltenen) Grundlage zu lehren, um dann moderne Fragen zu besprechen. Ich halte es durchaus für angebrachter, _ausgehend von den aktuellen Fragen_ die mehreren „Grundlagen“ aufzuarbeiten.
Es geht somit also gerade nicht darum, die Chronologie aufzugeben, sondern sie vielmehr im problemorientierten Unterricht zu _rekonstruieren_, und zwar durchaus im Plural, sie aber auch befragen und prüfen zu können: Inwiefern ist die griechische „Demokratie“ die „Grundlage“ für die moderne etc.?
Dann ist Geschichtsunterricht aber auch nicht mehr die „Vermittlung“ eines Themas (hier wohl gedacht als „Übermittlung“ einer Deutung, eines Wissensbestandes), sondern die Befähigung zu eigenem Denken.
Das passt im Übrigen durchaus zu Peter Habes Aussage, Schulunterricht solle ein Propädeutikum sein. Ich hielte es für keine gute Propädeutik, nur die eine, klassische Chronologie als vermeintlich gegebene Realgeschichte vermittelt zu bekommen, um dann im Studium nicht nur zu lernen wie, sondern dass man das durchaus befragen muss.
In anderer Weise aber hat Peter Haber recht mit seiner Aussage, es müssten erst „die Grundlagen“ erarbeitet werden. Ohne Grundkonzepte etwa der Chronologie, ohne zunächst grobe (und später immer feinere) Vorstellungen vom Geschichtsablauf (im Ganzen!) lässt sich nämlich wirklich nicht darüber nachdenken, was Früheres mit Späterem zu tun hat. Das aber erfordert dann tatsächlich eine Abkehr von der Chronologie als Anordnungsprinzip: Unterricht müsste in Form _mehrerer_ Längsschnitte die begrifflichen und methodischen Grundlagen für das eigene Urteilen elaborieren und dabei auch eine Progression zwischen den Längsschnitten aufweisen:
Anstatt über die ganzen Jahre eines „Lehrganges“ hinweg einmal die historische Zeit zu durchschreiten (und zu riskieren, dass alles Jahre später, wenn es gebraucht wird, wieder vergessen ist), müsste in jedem Jahr (gar mehrfach) die Zeit durchschritten werden und dabei
– die Periodisierungen verfeinert und pluralisiert werden
– immer weitere Aspekte erarbeitet und auf früher bearbeitete bezogen werden,
– der Abstraktionsgrad des Behandelns gesteigert werden,
– das jeweilige Kompetenzniveau gesteigert werden.
„In den Gymnasien sollten die Jugendlichen sich ein historisches Grundwissen aneignen, mit dem sie dann später, sollten sie sich entschlossen haben, Geschichte zu studieren, kreativ arbeiten können.“
genau das leistet das chronologische Durchhechten gegenwärtig nicht. Was einmal war, kommt dann nie wieder.
Ein Grundwissen muss netzwerkartig wachsen und sich festigen. Das geschieht durch Verknüpfungen, aber wenn ein Thema nur einmal irgendwann, aber dann extrem intensiv, dran kommt ist das Bulimielernen. Die Zahlen für die Arbeit in den Kopf prügeln und dann schnell Platz für die nächste Periode schaffen, die vorherige kommt in überschaubarer Zeit eh nicht wieder.