Kollega Haber hat ja ausführlich seine Einschätzung zum von Kollega Eisenmenger berichteten Beschluss in Brandenburg dargelegt, im Lehrplan vorzusehen, dass im Geschichtsunterricht eine „vorgezogene“ Unterrichtseinheit zur Geschichte der DDR abgehalten wird.
Im darauf folgenden kleinen Austausch von Meinungen spiegelt sich das Dilemma des Geschichtsunterrichts im Clinch zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen historischer Erkenntnis. Die Geschichtsdidaktik, so wie ich das überblicke, müht sich seit Jahren damit ab, hier eine plausible Lösung zu entwickeln – scheint aber an Missverständnissen und Widerständen, aber auch an Widersprüchlichkeiten in den Lösungsansätzen zu scheitern.
Dass die Chronologie ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Ordnungssystem und damit für historisches Lernen unverzichtbar ist, dürfte wenig umstritten sein. Wer Geschichte verstehen will, muss wissen, was sich im Zeitverlauf wann ereignete – sonst lassen sich keine Entwicklungen nachzeichnen, lässt sich kein (wie auch immer gearteter) Wandel feststellen, können mit anderen Worten keine historischen Zusammenhänge erkannt werden. Aber wie soll dieses Ordnungssystem im Geschichtsunterricht eingesetzt werden? Muss der gesamte Lehrplan der Chronologie der Weltgeschichte folgen? Sechste Klasse: Urmenschen und Römer, siebte Klasse: Mittelalter und frühe Neuzeit, achte Klasse: Aufklärung und Industrialisierung, neunte Klasse: 20. Jahrhundert? Dann ist die obligatorische Schulzeit vorbei – was alle Schüler irgendwie erreichen soll, muss bis Ende 9. Schuljahr behandelt worden sein.
Kein Wunder, dass bei einem solchen „Schnell-Durchlauf“ tendenziell nur an der Oberfläche gekratzt wird. Das sogenannte „Basiswissen“ kommt da doch kaum über dtv-Atlas-Niveau hinaus. Da mag kaum erstaunen, wenn ein Mister Schweiz André Reithebuch (der als Schreiner kein Gymnasium besucht hat, folglich ist die Beschränkung in diesem Beispiel auf die neun obligaten Schuljahr legitim) das Datum für den Zweiten Weltkrieg nicht kennt: Vermutlich hat er das mal brav gelernt und in der Prüfung richtig hingeschrieben – und nach zwei Wochen (wie ca. 90% aller Schüler/innen) wieder vergessen.
Irgendwie ist das so eine Sache mit dem Basiswissen in einer Zeit, in der digitale Medien einen anderen Zugriff auf Informationen ermöglichen als zu jener Zeit, als die bildungsbürgerlichen Ideale eines historischen Allgemeinwissens sich etabliert haben. Das Lexikon wird durch ein App ersetzt, das nicht mehr im Regal steht sondern in der Hosentasche steckt – das muss ja nicht nur Wikipedia sein, sondern kann auch Docupedia oder das HLS oder der dtv-Atlas sein. Da stellt sich doch die Frage, was man mit diesen Rahmenbedingungen an Basiswissen voraussetzen muss und soll, ja, wie soll Basiswissen überhaupt definiert werden? Der Mister Schweiz André Reithebuch, den Kollega Haber als Beispiel für historische Unwissen angeführt hat, kann auf seinem schicken Smartphone mit zwei Klicks jederzeit alle möglichen Informationen über Ausbruch, Verlauf und Ende des Zweiten Weltkriegs aufrufen („Basiswissen“). Aber was weiss er darüber? Was hat er über die Bedeutung dieses Ereignis verstanden, was über ein plattes „Krieg ist schlecht, da sterben viele Leute“ hinausgeht? Es geht ja darum, historische Ereignisse und Prozesse in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Dummerweise reicht es eben nicht aus, eine wunderschöne Darstellung, die diese Zusammenhänge aufzeigt, einfach zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen – das flutscht nämlich unter Umständen genauso durch wie das Lernen von Daten und Ereignissen. Nachhaltig wäre vermutlich, wenn die Schüler/innen selber zu historischen Erkenntnissen gelangen. Nur: wie lässt sich das verlässlich anleiten? Hier setzen alle diese Kompetenz-Diskussionen ein, die gegenwärtig die Didaktik-Szene (nicht nur in der Geschichte) dominieren.
Schön und gut. Die Schüler/innen sollen selber etwas verstehen lernen. Da kann man ja nicht viel dagegen haben. Aber was sollen sie im Fach Geschichte verstehen lernen? Wie kann man den Anspruch auf ein autonomes Verstehen von historischen Entwicklungen und Zusammenhängen mit dem Anspruch auf historisches Grundwissen in Übereinstimmung bringen, das als Grundwissen eben auch eine Funktion als gemeinsame Referenz bei gesellschaftlichen (politischen, kulturellen) Aushandlungsprozessen spielt.
Was gehört zu diesem Grundwissen überhaupt dazu? Die Menge an historischem Wissen, die als „unverzichtbar“ gilt, nimmt stetig zu: neben der klassischen Politik-Geschichte auch Wirtschafts-, Sozial- und Geschlechtergeschichte. Migration. Umwelt. Menschenrechte. Aussereuropäische Geschichte. Kultur. Gleichzeitig wird die Stundendotation verringert – denn Geschichte hat ja keinen unmittelbaren „Nutzen“ für die Leistungsgesellschaft. So ist beim neuen Lehrplan 21, der momentan in Arbeit ist und die Lehrpläne der Deutschschweizer Kantone vereinheitlichen soll, gar kein Fach Geschichte mehr vorgesehen, sondern nur noch ein Geographie-Ethik-Geschichte-Gefäss mit dem Titel „Räume, Zeiten, Gesellschaften“.
Die „postmoderne Beliebigkeit“ droht m.E. unabhängig davon, ob ein klassisch chronologisches Curriculum zur Anwendung gelangt oder eher mit thematischen Längsschnitten gearbeitet wird. Beide Ansätze haben ihre Tücken: Wenn ein zwölfjähriger im App-Store auf seinem Handy eine von Neonazis eingestellte antisemitische Hass-App findet (die letzte Woche im Android-App-Store aufgetaucht und nun wieder entfernt worden sind) und im Geschichtsunterricht nachfragt, warum das denn so schlimm sei, sei doch eine geile App (wenn er es denn überhaupt fragt, und nicht einfach im Pausenhof rumzeigt) – soll dann die Lehrkraft sagen: „Ja, das besprechen wir dann in zwei Jahren, weil, das könnt Ihr gar noch nicht verstehen, wir müssen zuerst noch das 18. und 19. Jahrhundert durchnehmen“? Diese Antwort ist irgendwie unpassend – aber eben auch begründet. Die Herausforderung der Geschichtsunterrichts ist ja die Tatsache, dass sich die Geschichte, wie sie den Kindern und Jugendlichen begegnet, nicht an jene logischen Aufbau von historischem Wissen hält, der systematisch die Entwicklung in einem grösseren Zusammenhang darzustellen versucht und daher zunächst einmal einem chronologischen Muster folgt. So fällt der Nationalsozialismus nicht einfach „aus dem Himmel“ oder entsteht nicht notgedrungen, deterministisch aus dem Scheitern der Weimarer Republik oder der Weltwirtschaftskrise. Allerdings kann auch ein chronologischer Aufbau des Geschichtsunterrichts nicht a priori verhindern, dass sich ein deterministisches Geschichtsbild bei den Schüler/innen etabliert, in dem einfach alles in einem kausalen Zusammenhang zwangsläufig aus dem Vorhergehenden entsteht.
In jedem Fall ist der Geschichtsunterricht Projektionsfläche (war er schon immer) von gesellschaftlichen Erwartungen an eine Sozialisation von jungen Menschen im Hinblick auf ihre Werte und Ansichten. Wenn die DDR-Geschichte thematisiert werden soll (oder der Nationalsozialismus und der Holocaust), dann hat das eine klare normative Ausrichtung: Es geht um die historisch legitimierte Konstituierung einer gesellschaftlich geteilten Grundhaltung, dass „das“ nie mehr passieren darf. Auch die Diskussion für und wider ein chronologisches Curriculum oder über die konkrete Ausgestaltung des erforderlichen historischen Basiswissen ist nicht frei von derlei Projektionen und gründet nicht nur auf rein wissenschaftlichen (so es das gibt) Überzeugungen. Die Frage sei daher erlaubt: ist der durchaus verständliche Wunsch, die Jugendlichen mögen in der Schule ein solides, propädeutisches historisches Basiswissen erhalten, nicht nur eine bildungsbürgerliche Konstruktion (die vermutlich sowieso nie für mehr als 10% der Bevölkerung wirklich Gültigkeit erhalten hat) sondern heutzutage (aus den oben genannten Gründen) sogar eine Illusion?
Da es leichter ist, gegen die postmoderne Beliebigkeit zu Felde zu ziehen, als konkrete und machbare Umsetzungsvorschläge zu unterbreiten (die SVP lässt grüssen), sei hier der Versuch unternommen, meinerseits kurz zu klären, meinerseits ein paar Überzeugungen zu diesem Fragekomplex zum Besten zu geben.
- Der Geschichtsunterricht soll durchaus grundsätzlich einer chronologischen Ordnung folgen. Rückgriffe auf bereits behandeltes, wenn neue, anspruchsvollere Themen und Zugänge („Demokratietheorien“ im alten Athen, z.B., aber auch einmal etwas komplexere Abhandlungen von Sozial- und Kulturgeschichte der Antike, damit hier das „Asterix“-Niveau auch einmal durchbrochen wird) behandelt werden sollen, sollten da möglich sein.
- Zeitgeschichtliche Themenblöcke können hier dann gut eingepasst werden, wenn sie als Teil eines bestehenden „gesellschaftliche Erinnerungsraum“ (Grosseltern der Schüler/innen haben die Zeit erlebt, oder erinnern sich noch an Erzählungen ihrer Eltern daran) behandelt werden. Dann ist Geschichte explizit als Vorgeschichte der Gegenwart adressiert und reicht soweit zurück wie die Erinnerung. Das kann sogar seinen Reiz haben, wenn zu einem späteren Zeitpunkt die Zeitgeschichte dann auch von der chronologischen Entwicklung der Geschichte her „erreicht“ wird.
- Orientierung in Raum und Zeit ist elementar. Das ist aber nicht nur mit einer Zeitleiste zu machen, denn es geht nicht nur um Daten. Es müsste auch um grundsätzliche Zusammenhänge gehen. 1492 ist ein wichtiges Datum im Kontext der europäischen Expansion – und im Zusammenhang zu sehen mit Humanismus, Religionskonflikten, Medienrevolution. Vielleicht wäre ein regelmässig wiederkehrender Block, der sich explizit dieser Orientierung widmet, im Geschichtsunterricht hilfreich, um die anschaulicheren exemplarischen Themen, die dann eher zur „Beliebigkeit“ tendieren, richtig im historischen Universum zu verorten.
– ist das jetzt die Einleitung deiner Diss?
Sehr interessant. Genau die Art und Weise der Nutzung der Chronologie als Ordnungsprinzip ist doch die große Frage. Der chronologische Aufbau bietet meiner Meinung nach kleinerlei Schutzschild vor deterministischen Welterklärungen, wichtig ist die Art und Weise, wie die Ereignisse und Zustände mit Erklärungen von Kausalität, Zufall, persönlichen Entscheidungen oder religiösen und wirtschaftlichen Zwängen erläutert werden. Die Rede vom „Fortschritt“ oder von der „Entwicklung“ von Zivilisationen oder Völkern kann auch bei einer reinen Chronologie unterschwellig extrem stark mitschwingen, und begünstigt so womöglich sogar noch Rassismus und Arroganz (gegenüber allen, die nicht in unserer heutigen westlichen „besten aller möglichen Welten“ leben). Auch die Art und Weise, wie eine zeitliche Einordnung überhaupt angelegt wird (vieles ist ja unter dem Stichwort „longue durée“ besser charakterisiert als auf einer bestimmten Jahreszahl im Zeitstrahl des Geschichtsbuchs), die Art der Periodisierungen und die Art der Bezüge zur Gegenwart halte ich bei der geringen Anzahl von Stunden, die überhaupt noch für Geschichte verwendet werden, für wichtiger als die Frage, ob man nun unbedingt den ganzen Geschichtsunterricht in eine chronologische Abfolge packen muss oder nicht. Interessant fände ich auch, wenn man geschichtliche Fragestellungen professioneller als bislang interdisziplinär einfließen lassen könnte. Deutsch, auch Fremdsprachen, und natürlich Kunst, Musik, Religion und manchmal auch die Naturwissenschaften beschäftigen sich zu einem gewissen Teil mit historischen Themen, lassen aber historischen Tiefgang sehr vermissen (und wenn die Erdkundelehrer jetzt auch noch nach den neuen Lehrplänen Geschichte nebenbei mit unterrichten, wird das wohl eher noch schlimmer…)