«httpasts://digitalmemoryonthenet» – Berichte und Reflexionen

16.4.2011: 23.30 Uhr
Am Samstag herrscht, man muss es sagen, etwas Kehraus-Stimmung. Die Reihen haben sich gelichtet und lichten sich im Verlauf des Vormittags weiter – was durchaus als bedauerlich zu bezeichnen ist. Denn Benjamin Jörissen bringt noch einmal in einem kurzen, prägnanten Vortrag den bei dieser Tagung relevanten Zusammenhang von Bildung, Medien und Erinnerung auf den Punkt. Kern der Aussagen: Medien strukturieren die Erinnerungspraxen und der digitale Medienwandel führt dazu, dass mehr Mitglieder der Gesellschaft sich im Rahmen der Erinnerungskultur artikulieren und damit an ihr partizipieren können.

Ergänzt werden seine theoretischen Ausführungen von einem Überblick, in dem Birgit Marzinka den Stand bezüglich Ausstattung der Schulen mit IT-Infrastruktur und deren Einsatz durch Lehrpersonen berichtet, ergänzt durch statistische Angaben zur Nutzung von digitalen Netzmedien durch Jugendliche (ausgehend von den JIM-Studien) und Anregungen zu möglichen Anwendungen von digitalen Netzmedien im Unterricht. Dieser Block hätte zu Beginn der Tagung vielleicht helfen können, die Diskussion an der Tagung auf andere Weise zu strukturieren. Die Praktiker/innen (und an diese war die Veranstaltung ja in erster Linie adressiert) fühlten sich jedenfalls stärker angesprochen; jedenfalls meldeten sie sich eher zu Wort als am Freitag.

Auch die folgenden Workshops richteten sich explizit an die Praktiker/innen. Zur Geschichtsrecherche im Internet fanden sich 6 Personen zusammen und verliessen den Workshop dann auch im grossen und ganzen zufrieden (so mein Eindruck). Doch weder erscheint es sinnvoll, hier den eigenen Workshop vorzustellen (man darf gerne einen Blick auf die entsprechende Wiki-Seite werfen), noch kann ich (logisch) etwas zu den anderen Workshops sagen.

Die Tagung endete dann bei einem (wie immer) einfachen, aber köstlichen Essen, einem angeregtem informellen Austausch bei einer Tasse Kaffee und schliesslich einer 7-stündigen, mit Fachlektüre gefüllten Heimfahrt rheinabwärts.

Erstes Fazit: Ich staune (immer noch) darüber, wie gross die Unterschiede sind in der Einschätzung des digitalen Medienwandels in seiner Bedeutung für die Arbeit der Geschichtsvermittlung (und auch der Geschichtswissenschaft) und schwer sich die Community auch damit tut, das Feld „digitaler Erinnerungskulturen“ theoretisch zu fassen und in der Praxis konkret zu erschliessen. Da gibt’s noch einiges an Arbeit zu leisten.

Abgesehen davon hat mich die reibungslose Organisation und angenehme Stimmung dieser Tagung sehr positiv überrascht: erstmals habe ich die im Sony-Center einquartierte deutsche Kinemathek (samt Dachterasse) von innen gesehen. Und mein verlorenes iPhone fand sich beim Veranstaltungs-Desk wieder!

16.4.2011: 8.00 Uhr
Kurze Ergänzung zu gestern: Auch das Jüdische Museum in Berlin versucht sich seit neustem im Web 2.0. und pflegt ein eigenes Facebook-Profil. Dort steht, wie passend, gerade eine Stelle ausgeschrieben für einen Social Media Manager. Interessent/innen, gleich mal hier klicken.
Wie die anderen, bereits gestern vorgestellten Institutionen, benutzt das Jüdische Museum das Profil vor allem, um Neuigkeiten zu annoncieren. Wie genau der Rückkanal genutzt werden kann (also jenseits von „die Ausstellung hat mir sehr gefallen“ und ähnlichem), ist für alle Institutionen noch unklar. Oder anders formuliert: um herauszufinden, wie man diesen Rückkanal nutzen kann, haben die Institutionen Stellen eingerichtet (eben: Social Media Managers) und diese Facebook-Profile und Youtube-Channels aufgebaut.

15.4.2011: 23.30 Uhr
Die Kolleg/innen liegen schon im Bett und haben ihren wohlverdienten Schlaf, während ich hier versuche, mir „am Ende des Tages“ einen Reim auf die Beiträge zu machen, die heute an mir vorbeigerauscht sind.

Besonders auffällig fand ich die unterschiedlichen Überzeugungen der verschiedenen Referent/innen dazu, wie historische Quellen im Allgemeinen und Aufnahmen von Zeitzeug/innen auf dem Netz zugänglich gemacht werden sollten. Während Shik es sogar unmoralisch fand, vorhandene Informationen, Quellen, Objekte nicht über das Web einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, vertrat Ruth Oelze vom Videoarchiv Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas einen konträren Standpunkt: Das Videoarchiv macht die Aufnahmen der Zeitzeugen nicht über das Web zugänglich. Diese sind nur in der Ausstellung des Denkmals einzusehen – wenn auch aus Platzgründen nur in den Seminarräumen, die wiederum nur sonntags für das allgemeine Publikum zugänglich sind. Sosehr man grundsätzlich Oelzes Anspruch folgen mag, dass die Zeitzeugen nicht gegen ihren Willen blossgestellt und ihre Aussagen aus dem Kontext gerissen und verschnippselt durch das Web gereicht werden, sondern stattdessen im Kontext der Ausstellung in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden sollen: Der hier konkretisierte beschränkte Zugang wird wohl tatsächlich von vielen Interessierten als „Zumutung“ angesehen – aber nicht ganz so, wie dies die Ausstellungsverantwortlichen intendiert haben. Ähnlich restriktiv ist das Visual History Archive (vorgestellt von Verena Nägel, Mitarbeiterin an der Berliner „Zweigstelle„): hier können nur lizenzierte Partnerinstitutionen einen Zugang zu den über 52000 Interviews (das Denkmal für die ermordeten Juden Europas hat gegen 1000 Interviews, etwas über 30 davon wurden von der Stiftung selbst durchgeführt) verschaffen.

Klevan, Shik und zu einem gewissen Grad auch Amahorseija und Serrotta von centropa hielten dagegen: Wenn die Institutionen mit ihren Inhalten im Netz nicht präsent sind, dann nehmen andere ihren Platz ein. Es geht auch hier um „Kontrolle“, sie wird aber anders interpretiert: nicht die Kontrolle darüber, wie mit den Zeitzeugen-Interviews konkret umgegangen wird – sondern Kontrolle darüber, welche Zeitzeugen-Interviews (und mit ihnen der Deutungszusammenhang, in dem sie stehen) überhaupt zur Kenntnis genommen werden.
Entsprechend haben die hier vorgestellten nicht-deutschen Projekte auch weniger Berührungsängste mit Web 2.0-Anwendungen wie Youtube (Anne Frank Haus, Yad Vashem, USHMM) oder Facebook (Anne Frank Haus, Yad Vashem, USHMM). Hier stellten sich andere Fragen: Was heisst es, „Fan“ von Yad Vashem zu sein? Wie versucht man Erinnerungsprozesse in angemessener Art und Weise in Web2.0-Anwendungen anzuregen? Wie geht man damit um, dass die Beziehungen von Individuen zu Institutionen nicht so stark sind wie jene zwischen Individuen, vor allem, wenn diese persönlich miteinander bekannt sind?

Web 2.0 und seine Implikationen für die Erinnerungskultur waren hier anschaulicher vertreten als in den eher theoretischen Überlegungen von Erik Meyer. Diese können in der einschlägigen Publikation zur „Erinnerungskultur 2.0“ nachgelesen werden. Auch die Ausführungen von Dörte Hein sind für die interessierte Leserschaft in ihrer Publikation „Erinnerungskulturen online“ dargelegt.

Nicht ganz so strittig wie im Programm angekündigt war das Streitgespräch zwischen Michael Wildt und Viktor Mayer-Schönberger. Dabei hätte man die Thesen von Mayer-Schönberger schon auch kritisch befragen können.

Morgen folgt also noch der Schluss-Spurt mit dem Workshop von Alexander und mir. Was die Teilnehmenden da genau erwarten und hören wollen, ist mir nach dem heutigen Tag ein Rätsel…

15.4.2011: 10.30 Uhr
Die Runde mit den etablierten Erinnerungsinstitutionen zielt vor allem darauf ab, das Netz als Chance zu sehen. Die Möglichkeit, mehr Informationen zum Thema der Institution mehr Personen mit mehr Formen der Interaktion zugänglich zu machen. Eindrücklich die Zahlen von Yad Vashem: zwei Millionen Besucher/innen kommen jedes Jahr nach Jerusalem – die Website besuchen jährlich 11 Millionen Besucher/innen jährlich. Und David Klevan vom USHMM bringt es auf den Punkt: „We send out wonderful quality content; but now, we should try to deepen the dialogue and find new ways for the visitors to engage“. Er stellt fest, dass Internet-Präsenzen die Möglichkeit bieten (oder die Verpflichtung generieren), nicht nur den Besucher/innen Geschichten zu erzählen, sondern auch ihren Erzählungen und Fragen zuzuhören. Klevan weist auch auf die zunehmende Bedeutung der mobilen Geräte, die Internet-Zugang erlauben, was neue Anwendungsmöglichkeiten wie Augmented Reality eröffnet.

15.4.2011: 8.30 Uhr
Während wir hier darauf warten, dass das Panel zu „Globalen Erinnerungskulturen im Netz?“ mit Ita Amahorseija und Gerrit Netten vom Anne-Frank-Haus in Amsterdam, mit Na’ama Shik von Yad Vashem in Jerusalem und David Klevan vom US Holocaust Memorial Museum in Washington beginnt, seien hier noch einige Reflexionen zur gestrigen Runde geäussert.

Der Wortmeldung von Claus Leggewie muss doch soviel Gerechtigkeit getan werden, dass sein Aufruf zu einer unaufgeregten Auseinandersetzung mit dem digitalen Wandel vielleicht nicht originell, aber doch wohltuend ist. Mit seiner Gegenüberstellung von Noras Definition von Erinnerungsorten und der Definition von Virtualität, die so ähnlich seien, hat er vor allem darauf hinweisen wollen, dass sich schon etwas ändert, aber möglicherweise nicht soviel, wie die gängige Rede über den digitalen Wandel zu unterstellen scheint.

In der anschliessenden Diskussion ging es ja, und da hätte man vielleicht expliziter an Leggewies Grundhalten anschliessen können, um Deutungshoheit und das Unbehagen, dass „Volkes Stimme“ im Internet ungefiltert einen Kanal findet und das „Qualitäts-Informationen“ (oder – warum nicht gleich – „die Wahrheit“) in der schieren Menge von „Informationsschrott“ untergeht. Diese Empfindung ist wohl nicht neu – aber immer noch sehr präsent. Dabei geht es ja nicht nur um „Falsch-Informationen“, sondern auch um ungewöhnliche Arten der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die im Interent zu finden sind und die mit den Erwartungen an eine ernsthafte, wissenschaftsbasierte, wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung brechen, wie sie Museen, Gedenkstätten und schulischer Geschichtsunterricht sie pflegen. Darauf verwiesen die Beispiele des Auschwitz Dance und des fingierten Facebook-Profils von Henio Zytomirski (das mittlerweile nicht mehr aktiv ist). Die Stimmen, die davon berichten, dass Jugendliche durchaus in der Lage sind, den Unterschied zu erkennen, sind da etwas wenig deutlich zu Wort gekommen.

14.4.2011: 19.00
Leggewies Vortrag und die Diskussionsrunde ist um. Tja, so wirklich provoziert hat Herr Leggewie nicht gerade. Er fasst die Aussagen in drei, uns vertraut erscheinende Thesen: 1. „Virtualisierung“ ist kein neues Phänomen, jede Erinnerung ist virtuell; 2. Digitale Informationstechnologien erlauben neue Formen der Virtualisierung der Erinnerung, was eine Herausforderung an die Profession bedeutet (auch nicht wirklich neu – Stichwort: Oral History) 3. Die Inhalte bleiben wichtiger als die Trägermedien, diese wirken aber auf Inhalte zurück.
Die Diskussion? Kurz gefasst: Kann man, darf man, soll man das Internet kontrollieren – wenn da einfach jeder seine eigene Geschichte reinschreiben kann? Da gibt es Unbehagen; Hoffnung; abgeklärte Statements – aber doch eher keine „neuen“ Einsichten.

14.4.2011: 17.30
Eben angekommen in Berlin, im Hotel eingecheckt und am Registrations-„Desk“ freundlich begrüsst – und schon sitze ich im Eröffnungsvortrag von Claus Leggewie, der sich als „schweigender Stern“ vorstellt und hofft, uns Anwesende „provozieren“ zu können mit seinen Überlegungen zu „Virtueller Erinnerung? Globale und europäische Perspektiven“.

Wer live dabei sein möchte:
– Live-Stream auf der Website der BPB: httpasts://digitalmemoraonthenet
– Live-Getwitter, vor allem von Kollega Eisenmenger: #digmem

Alldieweil bloggt Kollega Haber zeitgleich von der (fast) parallel stattfindenden re:publica XI.

11 Gedanken zu „«httpasts://digitalmemoryonthenet» – Berichte und Reflexionen“

  1. Ja, Kollega Haber bloggt, mit Tags, Bildchen und Links. Während Kollega Hodel wohl grad etwas verwirrt von der langen Reihe unser Blog mit Twitter verwechselt hat. Kann er ja noch ändern 😉

  2. Tja, Kollega Haber, wohl noch nie was von einem Live-Blog gehört? Es gibt verschiedene Nutzungs- und Darstellungsformen in Blogs, würd ich mal sagen, und nur, weil innerhalb eines Posts chronologisch geordnet etwas kürzere Text-Elemente erscheinen, liegt hier noch lange keine Verwechslung mit Twitter vor…!

  3. @Kollega Haber: Nun, wenn man von Berlin nach Basel fährt, dann fährt man (so ungefähr ab Frankfurt) schon dem Rhein entlang… insofern bezieht sich die Formulierung halt nur für einen Teilabschnitt der Reise. Richtig geographisch inkompetent ist hingegen die Formulierung „rheinabwärts“; es muss ja wohl „rheinaufwärts“ heissen. ich schieb es auf die einschläfernde Wirkung des Zugreisens am späten Samstagabend!

  4. @Fabian: Danke für die Blumen. Und gleich zurück: die Präsentation von Edward Serotta zu Centropa war ein Highlight der Tagung. Ich fand auch den Ansatz, für einmal die Zeitzeug/innen ihre Lebensgeschichte nicht persönlich in eine Kamera sprechen zu lassen, sondern deren biographische Berichte in animierten Sequenzen mit Bildern aus den Fotoalben der Personen zu inszenieren und damit mit den gängigen Authentiziäts-Anspruch in der Darstellung zu verzichten.

    @Kollegen Altenkirch, Eisenmenger, König und Wolf: herzlichen Dank für die vielen Hinweise und Backlinks!

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