Wie Kollege Haber schon im Weblog (und anderswo… NEID!) berichtet hat, ist Wikipedia aus Anlass des Wikipedia-Tages in Bern (wieder einmal) zu einem Thema der Medien geworden. Was ich je länger je interessanter finde: zwar reden die meisten über Fragen der Qualität der Einträge oder der Nutzung von Wikipedia. Viele konkrete Anwendungen haben weitaus mehr mit Geschichte zu tun, als man zunächst annehmen würde.
Michail Jungierek schildert beispielsweise die Wikisource als Projekt in der Tradition des Project Gutenberg, die aber weitaus anspruchsvoller angelegt ist: ein strukturierte, mit Editionshinweisen versehene Sammlung von relevanten historischen (weil urheberrechtlich freien) Texten aus Lexika, Literatur oder Wissenschaft. Wichtig in der Abgrenzung von ähnlichen Digitalisierungs-Projekten (Google und andere) ist die Verbindung von Scans als Referenz zur Überprüfung und der von Menschen eingetippten oder zumindest überprüften Voll-Text-Versionen der Texte (die eine höhere Genauigkeit aufweisen sollen als die automatisch mit Texterkennungs-Software erstellten Texte). Wikisource hat zwar nicht soviel Medienpräsenz wie Wikipedia (und es wirken auch nicht soviele Personen mit), in der Wirkung ist es vermutlich für die Erschliessung von Texten, die für geschichtswissenschaftliches Arbeiten von Nutzen sind, von grösserer Bedeutung.
Ebenso wichtig (wenn nicht wichtiger) für die Geschichtswissenschaften ist das Projekt HLS (Historisches Lexikon der Schweiz), das von Chefredaktor Marco Jorio (nein nicht dieser Marco Jorio!) vorgestellt und in seinem Verhältnis zu Wikipedia positioniert. Es ist schon interessant (und es scheint mehr dem historischen Zufall geschuldet), dass sich ein Lexikon-Projekt sowohl in Buch- als auch in Online-Form präsentiert. Jorio weist aber nicht zu Unrecht darauf hin, dass das Buch in 100 Jahren wohl noch immer zugänglich sein wird. Ob die Online-Version dann auch noch abgerufen werden kann, bleibt offen. Wikipedia bezeichnet Jorio zugleich als Konkurrent und Partner: Wikipedia hat viel Druck von HLS genommen, da es das alphabetische Ordnungsprinzip des Lexikons im Internet aufleben liess – was dem HLS oft als überkommen und altmodisch vorgehalten wurde. Ausserdem wird aus der Wikipedia immer öfter auf HLS-Artikel verlinkt, was den Zugriffszahlen der HLS zugute kommt. Andererseits setzt Wikipedia das Projekt HLS unter Druck, da die Wikipedia-Artikel billiger, ausführlicher, zuweilen sogar besser sind (welche das sind, sagt Jorio nicht…), was das HLS verstärkt zur Legitimierung zwingt (schliesslich kostet das HLS-Projekt unter dem Strich 100 Millionen Schweizer Franken). Druck entsteht aber auch, wenn in Wikipedia Artikel aus dem HLS kopiert und dabei sogar verschlechtert werden (Beispiel Martin Burckhardt in Wikipedia und im HLS).
Die Zukunft des eHLS (also die Online-Version des HLS) sieht Marco Jorio in einer Flexibilisierung, was die Medienformate, aber auch die Mitwirkungsorganisation (mehr Schreibberechtigungen für Nutzer/innen) betrifft. Dennoch wird beim eHLS immer eine Fachredaktion die Kontrolle über die publizierten Inhalte behalten. Interessant dann aber doch die Aussage von Jorio (auf Rückfrage aus dem Publikum), dass es denkbar wäre, dass die HLS-Redaktion verschiedene „lexikalische Gefässe“ (also zum Beispiel auch Wikipedia) mit Inhalten beliefern könnte.
Zum alphabetischen Ordnungsprinzip in Wikipedia: Jorio meint hier wohl die Lemmatisierung, dass Artikel pro Stichwort geschrieben werden.
Im Gegensatz zum HLS, wo sich die Autoren von A nach Z durcharbeiten, wird in Wikipedia zuerst geschrieben, was den Mitarbeitern als am wichtigsten erscheint. Das ist ein fundamentaler Unterschied!
Zudem besitzt Wikipedia eine (wenn auch selten genutzte) Baumstruktur. Soviel zu den systematischen Unterschieden.