Aus Anlass einer Podiumsdiskussion in Wien, zu der ich als Diskutant eingeladen wurde, habe ich versucht, einige Erkenntnisse aus meiner bisherigen Forschungsarbeit zusammenzufassen. Dabei interessierte mich (ausgehend von der Frage des Podiums nach der Rolle von Hypertext und digitalen Medien im universitären Alltag) als Historiker und Kulturwissenschaftler, ob Nutzungstechniken ausgemacht werden können, die die den digitalen Medien inhärent sind, also nicht von anderen Medien (etwa Büchern oder elektronischen Medien) auf die digitalen Medien übertragen werden. Natürlich interessiert mich als Didaktiker die Frage, ob daraus Schlussfolgerungen für E-Learning-Szenarien gezogen werden können.
Dabei gehe ich aus von meiner aktuellen Forschungsarbeit, bei der ich Gymnasiast/innen dazu befrage und beobachte, wie sie das Internet für das Geschichtslernen nutzen. Es handelt sich also um eine empirische sozialwissenschaftliche Studie, oder auch um eine ethnologische Feldstudie, je nachdem, wie fremd wir die „Digital Natives“ (Marc Prensky) wahrnehmen wollen, die das vordigitale Informationsuniversum nur noch vom Hörensagen kennen, und die zunehmend unsere Schulen und bald auch (offline und online) die Kurse an den Hochschulen bevölkern.
Zunächst eine Vorbemerkung: Roadmap verspricht ja Orientierung, und Orientierung (das scheint mir ein unausgesprochener, aber starker Konsens zu sein) ist in der digitalen Medienwelt vonnöten. Oder drastischer formuliert: Das Universum der digitalen Medien ist ein „Saustall“: unaufgeräumt, unordentlich, unkontrolliert, unstrukturiert. Natürlich finden wir in diesem Saustall auch die sprichwörtlichen Perlen, wenn wir lang genug im Dreck wühlen. Aber irgendwie ist der Umstand schon frustrierend. Dies ist (so lernen wir aus der Schrift von Jakob Krameritsch) für Situation von Medienumbrüchen nichts Aussergewöhnliches, auch zu Beginn des Gutenberg-Universums herrschte Unordnung. Doch hilft uns dies im Moment auch nicht viel weiter.
Diese Unordnung ist dabei für Wissenschaft und Didaktik durchaus ambivalent. Zum einen irritiert Unordnung und Unstrukturiertheit, da sie Klarheit, Verlässlichkeit und gesicherte Qualität vermissen lässt oder gar verhindert. Andererseits hat die Unordnung auch etwas Reizvolles, etwas Anarchisches und Kreatives. Und nicht zuletzt ist Unordnung auch eine Herausforderung, weil man als Wissenschaftler/in (oder als Didaktiker/in) da Ordnung schaffen kann.
Jetzt könnten wir uns genau diesen Bemühungen zuwenden, wie die etablierten Institutionen (wissenschaftlicher und didaktischer Art) versuchen, in den digitalen Medien „Ordnung zu schaffen“ – und uns dazu Gedanken machen, inwiefern sich darin der Zustand der Intermedialität spiegelt, also eine Situation des Medienübergangs, wo sich eine neues Medium etabliert, aber noch Verfahrens- und Ordnungsregeln für die herkömmlichen Medien gelten. Sind diese Ordnungs- und Strukturierungsversuche nicht oft aus den Erfahrungen mit den herkömmlichen Medien abgeleitet – und daher zum Scheitern verurteilt? Als Beispiele genannt seien die Versuche, Websites bibliothekarisch zu erfassen oder mit Learn-Management-Systemen bisherige Bildungsszenarien im Sinne eines „perfekten Klassenzimmers“ zu optimieren. Doch ich möchte den Fokus anders ausrichten.
Mich interessiert hier, wie die genannten „Digital Natives“ mit dieser digitalen Unordnung umgehen. Die Gymnasiasten, die ich befrage, haben keine formelle Ausbildung in „Internet-Benutzung“ genossen, keine Online-Lehrgänge absolviert, keine Einführung in Fachportale gehört. Wenn es hochkommt, haben sie im Schul-Unterricht mal mit Word und Excel gearbeitet. Wie also gehen die Jugendlichen mit den digitalen Medien, mit dem Internet vor allem, um? Wie kriegen sie diese Unordnung in den Griff? Bei einer genauen Beobachtung, so die These, wären womöglich medien-inhärente Techniken der Mediennutzung zu entdecken.
Was sind denn nun diese Techniken…? Die meisten werden enttäuscht sein, weil es Techniken sind, die wir aus unserer alltäglichen Praxis kennen und die wir gemeinhin als so gewöhnlich empfinden, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, was es mit diesen Techniken auf sich hat (ich spreche hier von Techniken als kulturellen Praxen, nicht von technischen Lösungen). Was tun die Jugendlichen: Volltext-Suche, Klicken, Vergleichen. Sie suchen in Google nach einigen Begriffen, klicken durch die Ergebnisse und vergleichen diese miteinander. Und damit erzielen sie in der Regel brauchbare Ergebnisse. (Übrigens: ja, alle von mir befragten Jugendlichen nutzten diese Techniken: Mädchen oder Jungs, aus bildungsnahen oder weniger bildungsnahen Schichten. Und: nein, Copy/Paste wenden zwar nicht wenige, aber keineswegs alle Jugendlichen an – etliche distanzieren sich explizit davon. Es gibt gar solche, die die Internet-Fundstücke ausdrucken, mit Textmarker bearbeiten, in Sichtmäppchen aufbewahren und beim handschriftlichen (!) Abfassen des eigenen Textes zusammen mit Büchern zur Konsultation wieder zuziehen…).
Es wäre jetzt reizvoll, jede dieser Techniken etwas genauer anzuschauen, zumal sie nicht mit dem Internet direkt verbunden sind: Volltextsuchen gibt es seit es Datenbanken mit Volltexten gibt, der Klick ist verbunden mit der grafischen Benutzeroberfläche von Computern, der WIMP-Technologie (Windows, Icon, Menu, Pointing Device), und das Vergleichen ist eine Methode, die bereits in vordigitaler Zeit genutzt wurde. Aber dennoch finde ich erstaunlich, wie selbstverständlich und ohne Anleitung die Digital Natives diese Technik anwenden, um Plausibilität von Informationen zu prüfen und Ordnung zu schaffen.
Was mich in der Vorbereitung auf dieses Podium sehr beschäftigt hat, ist der Klick, der Klick als Pendant zum hypertextuellen Link. Ohne Klick bleibt der Link nur eine ungenutzte Möglichkeit, eine Idee. Aber wer entscheidet über den Klick? Der Didaktiker, der Wissenschaftler, der Hypertext-Autor? Wenn man es zuspitzen möchte, ist der Klick der Knackpunkt in der gesamten digitalen Mediennutzung. Ein Klick – und der Kunde ist weg aus dem Laden – oder hat einen Artikel gekauft. Ein Klick, und der Studierende hat statt einer oberflächlichen und ungenauen geschichtlichen Auskunft in Wikipedia entweder einen sauguten Artikel in Wikipedia erwischt, oder einen Einblick in die Konstruktivität (Klick auf „Versionen“) oder Kontroversität (Klick auf „Diskussion“) von Geschichte bekommen und dabei möglicherweise mehr über geschichtswissenschaftliche Prinzipien gelernt als in einem ausgeklügelten Online-Lerngang (ausser natürlich bei Geschichte Online…), ein Klick, und der Nutzer kommt von einer Google-Ergebnisliste auf ein ausgezeichnetes Fachportal, ein Klick, und er ist wieder weg vom Fachportal (das man in mehreren Sitzungen in den Einführungsveranstaltungen den Studienanfängern immer wieder und mit guten Gründen ans Herz gelegt hat – wo die Studierenden aber einfach nix brauchbares für ihre Semesterarbeit finden). Mit anderen Worten: Ein Klick, und wissenschaftlich und didaktisch ausgeklügeltste Systeme verpuffen im Nichts.
Zum Schluss meiner durchaus vorläufigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen möchte ich zwei Fragen stellen:
- Ist es sinnvoll, besser: ist es klug, diese basalen und (so behaupte ich mal) mit wissenschaftlichen Ansprüchen nicht zu vereinbarenden Nutzungstechniken zu ignorieren und darauf zu setzen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs sich gefälligst daran zu gewöhnen hat, dass in der Wissenschaft nicht gegoogelt und nicht herumgeklickt wird, sondern elektronische Fachjournale durchzuackern, Fachportale aufzurufen und bitte nur „geprüfte“ Infos aus dem Netz zu ziehen sind?
- Was ich bei den Schüler/innen nicht beobachtet habe, ist die Nutzung des digitaler Medien zur Kommunikation und Kooperation (im Zusammenhang mit Lernen, bzw. erstellen von Arbeiten; private nutzen sie diese Formen sogar sehr ausgiebig), also alles was momentan unter dem Motto Web 2.0 im Trend liegt. Meine Frage: ist die Nutzung des Kooperations-Potentials der digitalen Medien für die Ordnung und Schaffung von Inhalten bereits eine Technik von Fortgeschrittenen, von Experten? Ist sie auch „medien-inhärent“, bildet sie sich auch „von selbst“ heraus? Und wie wäre dies entsprechend in didaktischen Szenarien zu berücksichtigen?
Meine Ausführungen forderten einige kritische oder ergänzende Anmerkungen heraus, die ich sehr anregend fand und hier gerne kurz skizzieren möchte:
- Saustall oder Wunderkammer: Jakob Krameritsch wollte lieber den kreativen Aspekt der Unordnung betont haben und daher das digitale Medienuniversum nicht als Saustall bezeichnet wissen. Er wies auch auf das Konzept der „Bricolage“ hin, das Claude Lévi-Strauss in seinem Werk „La pensée sauvage“ (1962) entwickelte, und das sich auch für Beschreibung von Nutzungstechniken digitaler Medien eigne.
- Die Logik des Klicks: einige Publikums-Votanten wiesen zurecht darauf hin, dass
- der Klick abhängig ist vom Link, der den Klick ermöglicht (hier gibt es eine Wechselseitigkeit, das ist klar),
- das Entscheidende des Lernprozesses „zwischen“ den Klicks passiert, der Klick also nur ein verbindendes, ermöglichendes Element zum Lernen sei.
Nur ein kurzer Einwurf (zur Länge sage ich jetzt nichts mehr): Es verwundert mich doch einigermassen, dass die Frage, ob das, was Du da treibst in Deinem Forschungsprojekt nun eine empirische sozialwissenschaftliche Untersuchung oder ethnologische Feldforschung ist, lediglich eine Frage der Wahrnehmung des Untersuchungsgegenstandes durch den Untersucher sein soll. Die beiden Ansätze sind, meinen bescheidenen sozialwissenschaftlichen Kenntnissen zufolge, rein methodologisch und ergo im Forschungsdesign nicht wirklich als kompatibel zu bezeichnen. Kannst Du Dich diesbezüglich ein bisschen präziser äussern, das würde mich sehr interessieren!
In der Kürze liegt zwar Würze, aber eben auch die Gefahr von Ungenauigkeit, und da dieser Kommentar auch keine längere Abhandlung werden kann, folgt hier nur eine skizzierte Annäherung an ein weites Feld, das ich etwas salopp aufgeschultert habe. Mit dem Begriff der „ethnologischen Feldstudie“ wollte ich den „Verfremdungseffekt“ anreissen, der in der Bezeichnung „Digital Natives“ mitschwingt. Es ging also nicht darum, die wissenschaftlichen Bereiche in eins zu setzen. Aber: mit empirischen Sozialwissenschaften meine ich eben *nicht* nur die statistisch operierenden Zähl- und Mess-Methoden, sondern auch jene qualitativen Methoden der Sozialforschung, die teilnehmende Beobachtung als Methode der Datenerhebung und (nebst anderen) durchaus auch Geertz‘ Thick Description als theoretische Grundlage für die Datenauswertung verwenden. Auch wenn Differenzierung wichtig (und nicht ganz einfach) ist, so „unvereinbar“ sind die Bezeichnungen ethnologische Feldforschung und empirische Sozialwissenschaft meines Erachtens nur, wenn man das von den statistisch orientierten Sozialwissenschaftler/innen beanspruchte Primat ihres quantitativen Zugangs als der „eigentlichen“, „wirklichen“ empirischen Sozialwissenschaft akzeptiert.