Geschichte twittern?

Vor einigen Tagen habe ich mich kritisch über das Projekt eines englischen Junghistorikers geäussert, der den zweiten Weltkrieg mit Twitter-Nachrichten in „Realtime“ nacherzählen will. In den verschiedenen Reaktionen kam auch die Bitte, Kriterien zu benennen, mit denen ein Einsatz von Twitter zur Darstellung historischer Sachverhalte beurteilt werden könnte. Nachdem Kollege Bernsen schon erste Überlegungen formuliert hat, folgt hier eine erste Annäherung meinerseits.

Dass neue Medienformate sogleich dahingehend erprobt werden, ob mit ihnen Geschichtsdarstellungen möglich sind und welche Effekte solche Darstellungen erzeugen, ist nicht nur verständlich, sondern sogar notwendig, um Chancen und Schwierigkeiten dieser Formate zu ermitteln. Insofern ist auch all jenen Versuchen, in Twitter historische Sachverhalten darzustellen, zugute zu halten, dass sie genau dies tun: versuchen, ausloten, ausprobieren, Erfahrungen sammeln. Dies lässt sich grundsätzlich kaum kritisieren, denn nur so können problematische Aspekte des Medienformats, bzw. ihrer Nutzung erkannt und diskutiert werden. Und solche problematischen Aspekte gibt es meiner Ansicht durchaus.

Es beginnt mit der verlockenden Möglichkeit des Mediums, den Verlauf eines historischen Ereignisses in „Echtzeit“, also gleichsam minutengenau nachzubilden, „wie er sich ereignete“ – oder, „wie die Menschen ihn damals erlebten“. Hier verleitet Twitter zu geschichtstheoretischen Trugschlüssen: denn erst im Nachhinein können jene Ereignisse und Begebenheiten ermittelt werden, die dann tatsächlich „relevant“ für den berichteten historischen Vorgang sind. Mit anderen Worten, der „Vorgang“ ergibt sich erst im Rückblick – im Moment des Geschehens handelt es lediglich um eine Vielzahl verschiedener Einzelereignisse, die noch nicht in einen Sinnzusammenhang gestellt werden können. So wird auch der Anspruch, einen Vorgang abzubilden, „wie ihn die Menschen damals erlebten“, zum doppelten Trugschluss – die Lesenden der Twitternachrichten von heute wissen, wie die Geschichte ausging. Eine Mitteilung über die Einrichtung des Warschauer Ghettos wird heute anders gelesen, da die Lesenden wissen, zu welchem menschenverachtenden Massaker diese Einrichtung einer Sonderzone geführt hat. Zudem verschleiert, ja missachtet eine solche Formulierung die Kommunikationsbedingungen zu jener Zeit – die Menschen waren nicht ständig mit Kommunikationsmitteln wie Twitter mit Individuen auf der ganzen Welt verbunden, sondern verfügten nur über wenige, stark gefilterte Informationen.

Ein zweites Problem mit der konkreten Anwendung von Twitter sehe ich darin, dass hier Narrative in kleinste Fragmente zerstückelt werden, die eine ereignisgeschichtliche Perspektive ohne jegliche Kontextualisierung Urständ feiern lässt. Wollen wir das: Geschichte als atemloses „dann geschah das, dann geschah das“ einer Chronik, die in endloser Reihe Kriegshandlungen und Tötungsakte, Leid und Menschenverachtung darstellt? Haben wir das nicht vor vierzig Jahren mit den historischen Sozialwissenschaften versucht hinter uns zu lassen? Denn umgekehrt ist das auch keine Mikrogeschichte, was uns im besagten WWII-Twitterfeed über den zweiten Weltkrieg berichtet wird: ein einzelner Mensch hatte ja eben nie die Möglichkeit zu einer solchen Gesamtschau, wie sie die Twitter-Narration, trotz aller Fragmentierung, eben doch vermittelt: so werden Details aus aller Welt getwittert, die der Erzähler/die Erzählerin aus dem Jahr 2011 für relevant hält – über die aber ein Erzähler/ eine Erzählerin in den 1940er Jahren so gar nicht verfügen konnte.

Eine solche Nutzung von Twitter ist meiner Meinung nach unzulässig. Aber gibt es umgekehrt sinnvolle Anwendungen von Twitter zur Darstellung von Geschichte? Das geht allenfalls dann, wenn die Kontextualisierung sichergestellt und der Konstrukt-Charakter jeder Geschichtsdarstellung deutlich gemacht werden. Ein Geschichte-Twitter-Projekt müsste also zeigen, in welchem narrativen Zusammenhang die jeweiligen Twitter-Nachrichten stehen, und wie die einzelnen Aussagen darin belegt sind. Das wäre wohl einfach zu bewerkstelligen, wenn eine begleitende Website, auf die beim Twitteraccount und in den Tweets verwiesen wird, diesen Kontext herstellt. Das gleiche Twitterprojekt zum Zweiten Weltkrieg mit Links zu entsprechenden Texten auf einer Website, die den Kontext herstellen und die Quellen angeben und situieren, aus denen die Informationen stammen: da hätte ich schon weitaus weniger ein Problem damit.

Möglich ist auch ein Einsatz analog zu Rollenspielen oder Reenactment-Szenarien, ein Beispiel hierfür nennt Daniel Bernsen: Twhistory.org. Hier werden verschiedene Ereignisse, zum Beispiel die Schlacht von Waterloo, aus verschiedenen Perspektiven, bzw. aus der Sicht verschiedener Personen mittels Tweets nachgestellt. Nun kann man von Re-enactement halten, was man will – auch ich habe da meine Vorbehalte, weil sie beanspruchen, eine Vorstellung davon zu vermitteln, „wie es damals war“ oder sogar „wie es für die Menschen war“, also „wie es sich anfühlte“. Wenn jedoch klar deklariert ist, dass hier nicht „Napoleon Bonaparte“ selbst spricht (wobei gerade diese Figur im Beispiel bei Twhistory nicht erscheint), sondern dass es sich um eine Rolle handelt, die anhand von (zu benennenden) Unterlagen agiert und twittert, dann ist dies je nach didaktischem Szenario durchaus ein denkbarer und sinnvoller Einsatz von Twitter. Verschiedene Schüler/innen können mit verschiedenen Twitter-Identitäten historische Vorgänge kommentieren oder durchspielen.

Allerdings bleibt die Frage, ob dafür wirklich Twitter eingesetzt werden muss – oder ob der einzige Grund für den Twitter-Einsatz der Umstand ist, dass dieses Medium grade Gegenstand eines umfassenden Hype ist. Weniger zu überzeugen vermag mich weiter das Argument, dass die Schüler/innen dank Twitter lernen, sich auf 140 Zeichen kurz zu fassen. Das ist so kurz, dass sich komplexe Aussagen eben nicht mehr darstellen lassen – die fallen dann in ihrer Komplexität einfach weg und machen einfachen, eventuell unstatthaft vereinfachenden Aussagen Platz.

Denkbar wäre auch eine Anwendung, bei der Quellenbestände in ihrer Serialität in Twitter abgebildet werden: wieso nicht die Hauptschlagzeile jeden Tages der Times während der Kriegsjahre twittern und mit einem Link zur Archiv-Ausgabe versehen? Dies schiene mir die Anliegen des Projekt von Collinson weitaus gewinnbringender und weniger problematisch zu erfüllen. Das könnte ja ergänzt werden durch weitere Tweets mit Schlagzeilen aus anderen Zeitungen. Dieser Idee der Quellenvertwitterung kommt auch das Twitter-Projekt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen recht nahe. Doch die Quellen werden hier einerseits zusammengefasst und andererseits nicht im Detail offengelegt, beispielsweise mittels eines Links auf einer dedizierten Website – so bleiben hier die Vorbehalte gegenüber der Vertwitterung von Geschichte bestehen.

Sinnvoll könnte eine solche Twitter-Publikation einer Quelle beispielsweise bei der sequentiellen Publikation eines Tagebuchs sein. Dann erscheint unter Umständen eben nicht jeden Tag mehrmals ein Tweet im Feed – dies ermöglichte aber (mit entsprechenden Links zum Gesamttext) einen interessanten Einblick in die Wahrnehmung eines Zeitgenossen oder einer Zeitgenossin, wie sie sich über die Zeit entwickelt. Allerdings lassen sich solche sequentielle Darstellungen von historischen Ereignissen eben auch gut mit Weblogs umsetzen, wie die Beispiele von „Design of a violent century“ und von „Tagwerke“ (auf einer Meta-Ebene allerdings) zeigen.

Zusammengefasst lässt sich diese vorläufige Befundaufnahme darüber, an welchen Kriterien sich gewitterte Geschichtsdarstellungen messen lassen müssen, wie folgt zusammenfassen:

  • Klarheit: Autor/innen der Twitter-Darstellungen von Geschichte sollten deutlich machen, ob sie einen Anspruch auf Authentizität („Was hat Napoleon in der Schlacht zu Waterloo aufgrund der Quellenlage wann gesagt?“) erheben oder ihre Tweets eher fiktiven Gattungen zuordnen lassen wollen („Was könnte Napoleon in der Schlacht von Waterloo gemäss unserer Vorstellung – auf der Basis der vorhandenen Quellen – gesagt haben“).
  • Kontext: Twitter-Darstellungen von Geschichte sollten entsprechend den Kontext deutlich machen, in dem die Mitteilungen stehen: Bei Anspruch auf Authentizität sind hier Literaturnachweise und Quellenbelege Pflicht. Aber auch bei stärker fiktiven Darstellungen ist der Kontext von Bedeutung, um den Lesenden eine Einschätzung davon zu ermöglichen, auf welcher Grundlage und mit welchem Ziel (beispielsweise dem bereits angeführten) Napoleon zu einer Twitter-Stimme verholfen wird.
  • Eindeutigkeit: Problematisch ist eine Anlage, bei der verschiedene Personen oder Quellen im gleichen Twitter-Account an die Öffentlichkeit treten: die verschiedenen Identitäten müssten dann in jeder Mitteilung klar gekennzeichnet werden. Einfacher ist es, um wieder auf das Beispiel zurückzukommen, wenn Napoleon und Blücher je mit einem eigenen Twitter-Account versehen werden, um die Schlacht von Waterloo zu rekapitulieren (und der einfache Soldat und die unbescholtene Bäuerin auch). Analoges gilt für Quellenbestände: einmal aus einer Aktennotiz einer Sitzung, dann aus einem Verhör, dann aus einer Pressemitteilung zu zitieren, führt bei den Lesenden zur Verwirrung über den Charakter der jeweiligen Aussagen.
  • Angemessenheit der Medienwahl: Die Verwendung von Twitter für die Darstellung von Geschichte ist dann gelungen, wenn für die Lesenden deutlich wird, warum gerade dieses Medienformat für die Darstellung ideal ist. Es bietet nämlich – neben der Einschränkung der begrenzten Zeichenzahl – auch spezifische Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten (Re-Tweet, Answer, Links, Bilder, Hash-Tags), die sinnvoll in die Darstellung eingebunden werden sollten.
Vermutlich gibt es noch weitere Kriterien, beziehungsweise noch Präzisierungen zu den hier vorgestellten Kriterien. Die geschätzte Leserschaft ist gerne eingeladen, Vorschläge in den Kommentaren anzubringen (ebenso wie Widerspruch oder Fragen).

4 Gedanken zu „Geschichte twittern?“

  1. Absolute Zustimmung beim „Doppelten Trugschluss“! Könnte man fast schon als popularisierendes „Werbegeschwätz“ abtun. Das problematische an dieser Twitter-Geschichte ist ja, dass es eben als „Geschichte Re-Live“ beworben wird, um Aufmerksamkeit und damit wissenschaftliche Reputation zu erlangen.

    Auch stimme ich zu beim kontextlosen Wissen, es sind schlicht Fakten aneinandergereiht: Die kompakteste Form von deklarativem Wissen bislang. Jedoch… Natürlich ist es eine Fragmentierung ins kleine Faktum, das der Zeitzeuge so nicht bemerkt hat. Aber müsste man dann nicht auch althergebrachte Geschichtsschreibung hinterfragen? Auch hinter Büchern steckt ein Autor, der Fakten auswählt und zusammenstellt, die dem Zeitzeugen nicht bekannt war. Die Fragmentierung in kleine Fakten ist nicht das Problem, sondern die Kontextlosigkeit.

    Die Verlinkung zu anderen Texten in Tweets ist natürlich ein Kniff. Aber wäre das dann ein Geschichtslernen durch Twitter? Twitter fällt dann in der Hierarchie des Wissenserwerb hinter andere Webangebote zurück und dient dann nur als Ausgangspunkt für weitere Studien. Eine informierende Seite über das Projekt wäre aber durchaus notwendig, um dem historiographischen Anspruch nach Nachweisen gerecht zu werden.

    Ich kann mir im übrigen auch schwer vorstellen, dass irgendjemand überhaupt mit dem tatsächlichen Anspruch an ein solches Projekt geht, um dem Leser zu vermitteln „wie es wirklich war“. Das ist, wie schon erwähnt, Werbegewäsch, das lediglich der Aufmerksamkeitssammlung dient. Werbung im Fernsehen hat oft genau so wenig Realitätsanspruch, hat aber meistens markige Sprüche zu bieten.

    Zustimmung auch bei der Frage nach der Notwendigkeit von Twitter in einem solchen Schülerprojekt. Dazu ist das schlichte Rollenspiel im Klassenverbund vielleicht am ehesten geeignet.
    Derzeit liegt das Plus noch in der Popularität, aber ob Twitter auch in Zukunft so populär sein wird, dass allein die Popularität des Mediums die Schüler zu motivieren vermag, bleibt abzuwarten.

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