Die beiden amerikanischen Historiker Daniel Cohen und Roy Rosenzweig haben mit diesem Praxisbuch eine erste umfassende Arbeitsanleitung für ‚digitale Historiker‘ vorgelegt. Beide sind, respektive waren, am ‚Center for New Media and History‘ an der George Mason University in Fairfax, Virginia tätig und gehören zu den Pionieren der Popularisierung des Internets für historische Themen. Roy Rosenzweig verstarb im Oktober 2007 (http://thanksroy.org).
„Digital History“ ist kein Buch über theoretische Aspekte wissenschaftlicher Internetnutzung und auch die Frage, wie sich das Internet auf die wissenschaftliche historiographische Praxis auswirkt, kommt in diesem Buch nur indirekt zur Sprache. Das Buch versteht sich vielmehr als eine Anleitung für Historiker, die ihre Forschungen nicht nur gedruckt, sondern auch digital und damit auch interaktiv publizieren möchten. Es konzentriert sich gewissermassen auf den letzten Teil der gesamten historiographischen Produktionskette von Recherche, Thesenbildung, Analyse, Textproduktion und Publikation.
In acht Kapiteln werden sehr handfest und sehr nachvollziehbar jene Arbeitsschritte vorgestellt, welche Historiker, die mit und im Internet arbeiten wollen, kennen müssen. Diesen acht Kapiteln vorangestellt ist eine Einführung in die Versprechen und Risiken digitaler Geschichtsschreibung. Darin werden die Vor- und Nachteile der neuen Medien vorgeführt: etwa bessere Zugänglichkeit oder Interaktivität auf der einen, aber auch Flüchtigkeit und fehlende Kontextualisierung auf der anderen Seite. In dieser Einleitung werden in sehr konziser und prägnanter Form alle diejenigen Aspekte beschrieben, die in den folgenden Kapiteln zwar nicht mehr explizit thematisiert werden, die es aber bei jedem digitalen Geschichtsprojekt mitzudenken gilt.
Die folgenden Kapitel, die alle auch separat durchgearbeitet werden können, sind jeweils sehr gut strukturiert und bauen auf einem reichen Fundus von eigenen Projekten und Erfahrungen der beiden Autoren auf. Im ersten Kapitel „Exploring the History Web“ zum Beispiel beschreiben Rosenzweig und Cohen, wie sich in den letzten Jahren wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Internet-Seiten zum Thema Geschichte entwickelt haben, welche Rolle die verschiedenen Akteure wie Archive und Bibliotheken dabei spielten und welche neuesten Entwicklungen – zum Beispiel historische Webblogs – gegenwärtig zu beobachten sind.
Die anschliessenden Kapitel widmen sich sämtlich rein technischen Fragestellungen: Wie funktionieren Web-Seiten? Wie findet man einen passenden Provider, und wie konzipiert man ein Web-Angebot (Kapitel 2)? Ausführlich – ohne sich in den Details zu verlieren – kommen auch Digitalisierung (Kapitel 3) und Web-Design (Kapitel 4) zur Sprache.
Die beiden folgenden Kapitel konzentrieren sich auf Aspekte der Interaktivität: Wie definiert sich das Zielpublikum eines Web-Angebotes, und wie lässt es sich erreichen? Wie lässt sich das Besucherverhalten analysieren und für die Verbesserung des Angebotes einsetzen (Kapitel 5)? Und: Wie können Besucherinnen und Besucher dazu motiviert werden, selbst Berichte und Quellen zu bestimmten zeithistorischen Themen und Fragestellungen online beizutragen (Kapitel 6)?
Die letzten beiden Kapitel schliesslich widmen sich dem Urheberrecht und der Frage der Langzeitverfügbarkeit digitaler historischer Materialien. Die Verwendung und Veröffentlichung historischer Materialien im Internet bietet zahlreiche urheberrechtliche Stolpersteine, die es zu beachten gilt. Rosenzweig und Cohen stellen diese – zugeschnitten auf die Verhältnisse in den USA allerdings – in groben Zügen vor, wobei es ihnen gelingt, sich nicht in der juristischen Materie zu verlieren, sondern sich jeweils an den Fragestellungen und Bedürfnissen der Praxis zu orientieren. Praxisnah ist auch das Schlusskapitel über die Vergänglichkeit historischer Netzangebote und über Strategien, die digitale Amnesie zu umgehen. Losgelöst von der technischen Frage nach Konzepten der Netzarchivierung stellen die beiden Autoren einige Punkte vor, die es bei der Realisierung und danach beim Betrieb von geschichtswissenschaftlichen Netzangeboten zu beachten gilt.
Alles in allem bietet „Digital History“ eine gute, auch ohne technische Vorkenntnisse gut verständliche Einführung in die historiographische Arbeitspraxis des 21. Jahrhunderts. Dabei konzentrieren sich die Autoren ganz offensichtlich auf Angebote, die weniger ein Fachpublikum, als eher eine breite Öffentlichkeit erreichen sollen. Das führt dazu, dass einige der behandelten Themen auf hiesige Verhältnisse nur eingeschränkt übertragen werden können. Und: Es lässt viele Aspekte einer digitalen Historiographie wie etwa die gemeinsame wissenschaftliche Texterstellung oder die quellenkritischen Spezifika von Online-Ressourcen ausser Acht.
Zuerst erschienen in: sehepunkte vom 15. Februar 2008.
Es sollte der Hinweis nicht fehlen, dass das Buch auch online verfügbar ist: http://chnm.gmu.edu/digitalhistory/. Übrigens schön gestaltet – finde ich.