Ich hatte kürzlich die Frage gestellt, welchen Wert Wikipedia für die Geschichtswissenschaft habe und eine Untersuchung dazu gewünscht. Darauf folgte prompt der Hinweis auf einen Artikel von Roy Rosenzweig, seines Zeichens Leiter des Center for History and New Media an der George Mason Universität in Fairfax, Virginia mit dem Titel: Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past (erschienen in The Journal of American History, 93/1 (2006), S. 117-146). Eine gute Zusammenfassung hat Tim Bartel in seinem Wikipedistik-Blog schon geliefert, hier noch einmal die wichtigsten Fakten aus meiner Sicht.
Rosenzweig stellt zunächst einmal fest, dass nur 6 Prozent der 32’000 seit dem Jahr 2000 im Journal bibliographierten Titel mehr als einen Autoren, bzw. eine Autorin aufweisen. Geschichte schreiben ist eine indiviualisierte, keine kollaborative Arbeit – bislang.
Er differenziert bei der Analyse der Einträge: Artikel zu allgemeinen Themen, z.B. die Überblicksartikel zur Geschichte verschiedener Nationen, sind weniger gut als biographische Artikel. Dies liege laut Rosenzweig einerseits daran, dass es relativ schwierig sei, gute zusammenfassende Darstellungen kollaborativ zu verfassen.
[…] such broad synthetic writing is not easily done collaboratively.
Andererseits seien biographische Artikel in dieser Hinsicht einfacher zu schreiben, weil sie einem bewährten und bekannten Muster folgten. Rosenzweig hat 25 biographische Einträge in Wikipedia genauer untersucht, mit entsprechenden Einträgen in Encarta und American National Biography Online (ANB Online) verglichen und dabei praktisch keine faktischen Fehler vorgefunden. Allerdings sei der Stil doch nicht so überzeugend und die historische Einbettung und Deutung nicht so stringent wie beim Referenz-Werk ANB Online.
Bemerkenswert ist die unterschiedliche Gewichtung von bei der Länge der Artikel, ja der Auswahl an Biographien in Wikipedia, die den Präferenzen der hauptsächlichen Benutergruppen entsprechen: Der Eintrag zur Fernsehserie Coronation Street (eine Art englische Lindenstrasse) könne länger sein als jener über Tony Blair. Allerdings wurde der Artikel zu Blair nach der Äusserung dieser Kritik von Dale Hoiberg, dem Herausgeber der Encyclopedia Britannica, umgehend von der Wikipedia-Gemeinde ausgeweitet.
Rosenzweig sieht auch das Bemühen um Neutralität (das Neutral Point of View-Gebot) als Schwierigkeit, zu überzeugenden Darstellungen zu gelangen. Im Bemühen um Ausgeglichenheit werden die Artikel gerne steril und wenig aussagekräftige Aufzählungen (Punkt-Listen) von Fakten.
Rosenzweig geht auch auf die Fehler in Wikipedia ein, die zwar grosse Verbreitung finden (weil Wikipedia bei Google so hoch gerankt wird, aber auch, weil viele Website die Gratisinformationen von Wikipedia übernehmen), aber auch schnell und einfach korrigiert werden können. Er stellt aber auch fest, dass die verbreitete Nutzung von Wikipedia unter Studierenden weniger ein Problem der Fakten, als ein Problem des Charakters von Wikipedia ist: es handelt sich um ein Lexikon-Projekt, und in Lexika werden Sachverhalte auf eine bestimmte Art und Weise abgehandelt, die nicht für den wissenschaftlichen Gebrauch geeignet ist (daher auch der Aufruf von Wikipedia-Gründer Wales, Wikipedia nicht zu zitieren). Die Fakten mögen stimmen: Aber reichen die Fakten aus, um Geschichte zu verstehen?
Was den Vorwurf der unwissenschaftlichen Entstehungsbedingungen betrifft, macht Rosenzweig auch interessante Feststellungen: Seiner Ansicht nach sei das kollaborative System der Artikel-Erstellung nichts anderes als eine Art Peer-Review – und auf den Diskussions-Seiten würden sich letztlich genau jene historischen Debatten (wenngleich nicht auf wissenschaftlichen Niveau) zutragen, die sonst von den professionellen Historiker/innen immer so schmerzlich in der Gesellschaft vermisst werden. Rosenzweig macht geltend, dass hier durchaus wissenschaftliche Prinzipien zum tragen kommen oder dies zumindest könnten. Er fordert schliesslich die Zunft dazu auf, sich lieber am Projekt Wikipedia zu beteiligen, als es als unwissenschaftlich abzuqualifizieren. Würden alle Historiker/innen nur einen Tag pro Jahr arbeiten, könnten die Inhalte etlicher Artikel wesentlich verbessert werden.
Er ärgert sich auch darüber, dass die durchaus vorhandenen, hervorragenden Online-Angebote zu Geschichte (wie zum Beispiel ANB online, aber auch JStor) nur gegen (teure!) Bezahlung zugänglich seien, obwohl sie mit nicht unerheblichen staatlichen Mitteln direkt oder indirekt gefördert worden seien. (Hier ist als löbliche Ausnahme das historische Lexikon der Schweiz zu nennen, dass genau jene Forderung erfüllt und kostenlos zugänglich ist).
Schliesslich sinniert Rosenzweig über Möglichkeiten, die Kraft von Communities für historische Projekte zu nutzen: Warum nicht die ehrenamtliche Tätigkeit für Transkriptionen von Quellenmaterial einsetzen, oder für das Verfassen eines standardisierten, frei zugänglichen Textbuches für Studienanfänger/innen? Natürlich zählt Rosenzweig auch die Schwierigkeiten solchen kollaborativen Arbeitens auf: Kosten, Promotionsordnungen, Renommé. Wer bezahlt, wer bestimmt und wie werden die individuellen Leistungen anerkannt, die in der kollaborativen Endergebnis „verschwinden“? Rosenzweig rät zum Schluss, dieser neuen Form, Wissen zu produzieren, genügend Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber letztlich bleiben auch bei seinem erhellenden Artikel doch viele Fragen noch offen.
Übersicht Aus der Welt der Wikis
2 Gedanken zu „Aus der Welt der Wikis: Wikipedia und Geschichtswissenschaft (laut Rosenzweig)“