Aus der Welt der Wikis: Ein Blick hinter den Vorhang

Ein Artikel in der Weltwoche 50.05 von Markus Schär mit dem Titel „Sieg der Köpfe“ war weniger wegen des Hinweises auf die (bereits besprochene) „Weisheit der Vielen“ (von James Surowiecki) von Interesse, sondern weil einmal ein Einblick in die sozialen Aspekte der Erstellung von Inhalten gewährt wurde. Wer opfert da eigentlich aus welchen Gründen seine Zeit; welche Debatten und Diskussionen werden zwischen den Autorinnen und Autoren und den Moderatorinnen und Moderatoren geführt? Erstaunlicher Befund: Deutsche und Schweizer Autorinnen und Autoren streiten um Helvetismen (Doppel-S oder Differenzierung von Skiläufer und Skirennfahrer und dergleichen), bezichtigen sich der dilettantischen Schreibweise und der inhaltlichen Voreingenommenheit – zumindest in der (zufälligen, aber interessanten) Auswahl, die Markus Schär gewählt hat. Diese umfasst einerseits Beiträge, die weniger wegen ihrer politischen Ausrichtung als grundsätzlich wegen ihrer enzyklopädischen Bedeutung umstritten sind (wie ein Artikel über das Dorf Weiach, ZH), aber auch heiss umkämpfte Biographien aktiver Politiker (wie Christoph Blocher, Moritz Leuenberger (beider Bundesräte) oder Alexander Tschäppät (Berner Stadtpräsident)). Inkonsistent ist der Autor in seiner Grundaussage. Er sieht in Wikipedia einen Beleg für die Weisheit der Vielen, porträtiert dann aber doch Individuen. Klar, ist es interessant zu wissen, was da für Personen ihre Freizeit für Wikipedia opfern. Dass die „Weisheit der Vielen“ funktioniert (so dies bei Wikipedia zutrifft), hat aber eben nichts mit den interessanten Eigenschaften der Individuen zu tun. (Und der Artikel endet erst noch mit einem irreführenden Link auf wikimedia.ch…)

Der Blick „hinter den Vorhang“ von Wikipedia ist allerdings von besonderem Interesse. Als User muss man sich zunächst daran gewöhnen, dass es mehr gibt als nur die publizierte Version, sondern dass auf mehrere Versionen zurück die Entstehung des Artikels (und auch die Autorinnen und Autoren und selbst die Diskussion zum Artikel) verfolgt werden können (vgl. Eintrag Legendenbildung). Allerdings ist die Archiv-Funktion nicht ganz einfach zu lesen und zu gebrauchen und die Diskussionen oft unübersichtlich, sodass bereits Alternativen dazu erwogen werden.

Für Historikerinnen und Historiker ist das gleich doppelt bedeutsam. Einerseits können die Artikel in ihrer Entstehungsgeschichte analysiert werden, und andererseits ist auch die Methode der Quellenkritik entsprechend anzupassen.

Das Projekt „history flow“ von IBM setzt genau hier und erstellt grafische Darstellungen von der Entwicklung der Artikel in Wikipedia über die Zeit, wobei die Veränderung des Umfangs über die Zeit und der Anteil verschiedener Autorinnen und Autoren bei diesen Veränderungen berücksichtigt werden. Dies ergibt interessante Grafiken, die auf einen Blick verschiedene Typologien der Enstehung und damit der Nutzung anzeigen. Leider sind bislang nur Auszüge aus den Ergebnissen dieses Projekts publiziert.

2 Gedanken zu „Aus der Welt der Wikis: Ein Blick hinter den Vorhang“

  1. Nur so ganz nebenbei:
    Der Link ist nicht derart falsch, da er auf die Seite des neuen Schweizer Vereins (Wikimedia CH) verweist, der im Artikel erwähnt wurde. Der Autor dachte wohl, zur WP selber müsse nicht noch extra verlinkt werden.

  2. Merci für den Hinweis, Michael und: Ok, ich gebe dieser Vermutung soweit recht, dass ich nun nicht mehr von einem falschen, sondern von einem irreführenden Link spreche. Denn der Verein wird im Artikel nirgends mit dem entsprechenden Link in Verbindung gebracht. Einen Tippfehler zu vermuten, liegt näher.
    Aber eigentlich ist das ja Beckmesserei, bzw. „Tüpflischisse“ bzw. „Korinthenkacken“ (um die Schweiz-Deutsch-Problematik hier ganz kurz aufzunehmen).

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