Florian Rötzer berichtet in einem Telepolis-Beitrag von der „Digitalen Demenz„. Gemeint ist damit die schwindende Fähigkeit, sich Namen, Nummern oder Sachverhalte zu merken, da diese in digitalen Speichergeräten abgelegt und ständig verfügbar seien. Es werde kaum mehr auswendig gelernt und die Abhängigkeit von den digitalen Speichergeräten nehme dafür zu. Der Bericht bezieht sich auf eine aktuelle Diskussion in Korea, wo die Durchdringung mit digitalen Informationstechnologien besonders weit fortgeschritten ist, und wo bei 20 bis 30-jährigen sich bereits Symptome zeigten, die von den behandelnden Ärzten als digitaler Alzheimer bezeichnet werden. Allerdings handelt es sich in diesen Fällen vor allem um eine Überlastung durch die grosse Menge an Informationen, welche die Patienten zu verarbeiten haben. Das Problem lässt sich also nicht darauf reduzieren, dass „wir heute nichts mehr auswendig lernen, wie noch zu Grossvaters Zeiten“. Man sollte hier nicht einer Verklärung vordigitaler Umstände anheim fallen.
Ich erinnere mich an eine Hollywood-Verwechslungs-Komödie („Taking Care of Business“ 1990), bei der ein smarter Geschäftsmann seinen „Filofax“ und damit sein Gedächtnis, ja seine Stellung in der Gesellschaft verlor. Und dieser Filofax (eine Art Super-Taschen-Agenda, erfunden in den 1920er Jahren) war noch 100% analog mit Papier und handschriftlichen Einträgen. Ausserdem ist das Graeculus-Prinzip, bei der ein Wissenssklave einen Teil des Gedächtnisses des Herrs übernahm, schon bei den Griechen belegt, wie überhaupt die Auslagerung des Gedächnisses in externe Medien nicht eine neuartige Erscheinung des digitalen Zeitalters ist. ((Schönpflug, Wolfgang: „Eigenes und fremdes Gedächtnis. Zur Rolle von Medien in Erweiterten Gedächtnissystemen“, in: Koch, Peter (Hg.), Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen: Stauffenburg Verlag 1997, S. 169-186.)) Aber hier überlasse ich das Feld gerne Kollega Haber, der sich eingehender mit der Geschichte der Wissensspeicher befasst hat.
Relevant ist die Frage nach der Rolle des Gedächtnisses aber auch für die Didaktik. Ist es in einer Zeit der ständig erreichbaren Inhalte noch angebracht, Prüflinge in einem überwachten Raum unter Verbot von Hilfsmitteln (zum Beispiel von iPods, die als Audio-Spickzettel genutzt werden) auswendig gelerntes Wissen zu reproduzieren? Oder hat das schon etwas Anachronistisches? Ginge es nicht vielmehr darum, Schüler/innen und Studierende darauf hin zu prüfen, wie sie mit der Informationsmenge im Internet sachgerecht umgehen, bei Recherchen zu brauchbaren Resultaten kommen und diese korrekt (also nicht-plagiatorisch) verarbeiten? (Vgl. dazu auch die Überlegungen von William J. Turkel zur Geschichte im digitalen Zeitalter).
Was die Fähigkeit zum Auswendig-Lernen betrifft: wenn ich sehe, mit welcher Leichtigkeit meine Kinder Songtexte von Pop-Bands, ganze Sprechpassagen aus Kinofilmen oder Werbe-Dialoge reproduzieren können, liegt das Problem wohl weniger an der Merkfähigkeit als solcher, sondern eher daran, wofür sei eingesetzt wird.