Die technischen Möglichkeiten des Computerzeitalters verlocken heute dazu, zu vergessen, wie wichtig das Vergessen ist. Dass aber eine Gesellschaft, die nicht vergessen kann, nicht überlebensfähig ist, wussten schon die Autoren des Talmud: Im Traktat Nidda heisst es, dass das Ungeborene im Mutterleib die ganze Thora auswendig kennt. Im Augenblick der Geburt aber kommt ein Engel und gibt dem Neugeborenen einen Klaps – das Kind vergisst alles und muss die Heilige Schrift von Anfang an neu lernen:
Das Kind im Leibe seiner Mutter gleicht einer zusammengeschlagen liegenden Schreibmappe. […] Kommt es in den Weltenraum, so wird geöffnet, was geschlossen war, und geschlossen, was geöffnet war, denn sonst würde es nicht eine Stunde leben. Auf seinem Kopfe brennt ein Licht, und es schaut und sieht von einem Ende der Welt bis zum anderen Ende, wie es heisst: da er seine Leuchte strahlte über meinem Haupte, bei seinem Lichte wandle ich im Finstern. […] Es gibt keine Tage, die der Mensch so angenehm verbringt, wie diese Tage, denn es heisst: O, wäre ich wie in den Monden der Vorzeit, wie in den Tagen, die Gott mich behütete. […] Welche Tage sind es, die nur Monate und nicht Jahre haben? Es sind die Geburtsmonate. Man lehrt ihn die ganze Tora, wie es heisst: er unterwies mich und sprach zu mir: Dein Herz erfasse meine Worte, wahre meine Gebote und du lebst. […] Sobald er in den Weltenraum gekommen ist, kommt ein Engel, klapst ihn auf den Mund, und macht ihn die ganze Tora wieder vergessen, denn es heisst: an der Tür lagert die Sünde.*
*Zitiert nach: Der babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials ins Deutsche übersetzt von Lazarus Goldschmidt (12 Bände), Frankfurt am Main 1996 (zuerst: Berlin 1930-1936), Bd. 12, S. 440f.