Das Schlaue Buch (II): 10 Jahre Google – oder: Das weisse (Daten-)Loch

Google Start 1998

Ich fand ja den Kunstgriff von Kollega Haber, zwecks Veranschaulichung von Allmachts- oder besser Allwissenssphantasien das «Schlaue Buch» des Entenhausener Universums ins Feld zu führen, schon genial, als er ihn im Jahr 2005 noch auf das «Google-Syndrom» angewandt hat ((Haber, Peter: «Google-Syndrom». Phantasmagorien des historischen Allwissens im World Wide Web, in: Epple, Angelika; Haber, Peter (Hg.): Vom Nutzen und Nachteil des Internet für die historische Erkenntnis. Version 1.0, Zürich: Chronos 2005, S. 73-89.)) – übrigens auch eine Haber’sche Wortschöpfung.

Nun kann man sich streiten, ob Wikipedia dem «Schlauen Buch» besser entspricht als Google – beide bedienen Phantasien des allgegenwärtigen, sofort abrufbaren Wissens – so verschieden sie sind. Und Sie sind in mehrfacher Hinsicht sehr verschieden. Google bedient dabei die Ängste, die mit solchen Phantasien auch verbunden sind, weitaus besser. Die Einführung des Google-Browsers Chrome (von Kollega Haber gefeaturet und von unserer Leserschaft mehrfach kommentiert) hat dem Zehnjahresjubiläum von Google (so alt wie hist.net!) fast die Show gestohlen: So machte das deutsche Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (so was gibt es wirklich!), bzw. dessen Sprecher dem Branchengiganten den Gefallen, vor dem neuen Browser zu warnen:

«Google Chrome sollte nicht für den allgemeinen Gebrauch eingesetzt werden» (BSI-Sprecher Matthias Gärtner in der Berliner Zeitung)

Begründung: Google sammelt Daten, in diesem Falle alle Adressen, die im Browser in der Adress-Zeile gesammelt werden. Google reibt sich die Hände. Denn dass dies den Nutzern wurscht ist, das wissen wir ja seit längerem. Und den Werbekunden kann ja der Hinweis, dass hier noch einmal zusätzliche User-Daten erschlossen werden, nur willkommen sein. 

Das Faszinosum Google besteht ja darin, nicht so sehr Fakten über unser Leben zu sammeln, sondern unsere Fragen. Peter Glaser dazu in der taz

«Menschen fragen Google alles und schaffen damit, wie der Suchmaschinenexperte John Batelle es nennt, eine gigantische „Datenbank der Absichten“ – eine Informationsgoldmine von nie dagewesenem Ausmaß. Was will die Welt? Ein Unternehmen, das diese Frage beantworten kann, hat Zugang zum Kern der menschlichen Kultur.»

Ich habe Google in einem Artikel vor sieben Jahren ((Hodel, Jan: Heidegger in der Strassenbahn oder Suchen in den Zeiten des Internet, in: Haber, Peter (Hg.): Geschichte und Internet: Raumlose Orte – geschichtslose Zeit, Zürich: Chronos 2002, S. 35-48.)) mal als «das Weisse Loch» bezeichnet: Damals meinte ich damit noch die Gefahr, sich bei der Suche in der Menge von Informationen zu verlieren. Mittlerweile könnte man damit aber auch den Datenstaubsauger Google bezeichnen, in dem sich (vergleichbar mit dem Schwarzen Loch) die Informationen verdichten und immer neue Informationen in immer grösseren Mengen anziehen. Das wäre eine nette Bezeichnung, die passend zum «Schlauen Buch» von Kollega Haber, die «Schattenseiten» hat aber den Schönheitsfehler, dass es in der Physik bereits «weisse Löcher» gibt (zumindest in der Theorie).

So wird man wohl weiterhin von der Datenkrake Google sprechen, oder vom «neuen Microsoft», oder vom Imperium, das «zurückrechnet», wie das die Süddeutsche etwa schildert. Google und seinen Absichten wird misstraut und zwar gründlich: ist der Datensammler Google nicht eigentlich die Reinkarnation des Big Brothers im 21. Jahrhundert und der Slogan «You can make money without doing evil» eine aktuelle Version des Orwellschen Newspeak? Dennoch benutzen alle Google, jeden Tag. Das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Google (und ich nehme mich da nicht aus) ist, gelinde gesagt, sehr widersprüchlich.

4 Gedanken zu „Das Schlaue Buch (II): 10 Jahre Google – oder: Das weisse (Daten-)Loch“

  1. Ob weisse oder schwarze Löcher – von der Phantasie, wie Kollega Hodel das in seinem schönen Text zusammenfasst, war bei mir nie die Rede, sondern ich schrieb vom Phantasma der Allwissenheit.

  2. Es sei Kollega Haber gedankt, dass er jedem Anflug von schludrig-journalistischer Begriffsverwendung konsequent den Riegel schiebt. Den „Trugbild“ ist eben nicht gleich „Trugbild“, da kann der Duden keuchen, wie er will. Nun, ich werde mich dennoch nicht auf die Couch legen, und wer unter den geschätzten Leserinnen und Lesern in punkto Lacan ebenso unbeleckt ist wie ich, der möge bitte doch zum Original (sprich, dem referenzierten Text von Kollega Haber) greifen, und sich dort aus erster Hand informieren lassen, was genau er gemeint und wie er es gesagt hat. Der aufmerksame Leser und die nicht minder aufmerksame Leserin wird dann nämlich sogleich feststellen, dass mein Irrtum noch viel schwerer wiegt: Der Text behandelt nämlich laut Titel weder die Phantasien noch die Phantasmen, sondern die Phantasmagorien der Allwissenheit. Mea culpa, mea maxima culpa!

  3. Ich zitiere der Einfachheit halber aus Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002:

    Die Phantasie ist ein zentraler Begriff in Freuds Werk. In der Tat hängt der Ursprung der Psychoanalyse mit der Erkenntnis Freud von 1887 zusammen, dass Erinnerungen an einer Verführung manchmal eher der Phantasie entspingen […]. Dieser entscheidende Moment in der Entwicklung von Freuds Denken […] scheint anzudeuten, dass die Phantasie der Realität entgegengesetzt sei, bloss ein trügerisches Produkt der Einbildungskraft, weches der korrekten Wahrnehmung der Realität im Wege stehe. Ein solches Verständnis aber kann in der psychoanalytischen Theorie nicht aufrechterhalten werden, da die Realität nicht als ein unproblematische Gegebenes verstanden wird, von der es eine einzige objektiv korrekte Art der Wahrnehmung gibt, sondern als ein diskursiv Konstruiertes. […] Wenn Lacan den Formulierungen Freuds über die Bedeutung der Phantasie und über ihre visuellen Qualitäten als den das Begehren in Szene setzende Schauplatz zustimmt, so betont er doch die Schutzfunktion der Phantasmen. […] Obwohl ‚Phantasma’ erst ab 1957 ein wichtiger Terminus in Lacans Werk wird, zeigt sich das Konzept eines relativ stabilen Modus von Abwehr schon früher […]. Dieses Konzept liegt sowohl Lacans Vorstellung von Phantasma als auch seinem Begriff der klinischen Struktur zugrunde.

    Bleibt anzumerken, dass in der englischen Originalausgabe des Wörterbuches sowohl Phantasie als auch Phantasma mit fantasy bezeichnet werden und die der Lacan’schen Terminologie adäquatere Unterscheidung nur in der deutschsprachigen Ausgabe vorgenommen wird.

    Und noch ein Wort zum Begriff Phantasmagorie: Das ist von der Phantasie noch einen Tick weiter entfernt als das Lacan’sche Phantasma, bezeichnet es doch einen «auf Augenverblendung beruhende[n] Zaber» – meint zumindest mein Fremdwörterbuch von Johann Christian August Heyse von aus dem Jahre 1891.

    Nur: In meinem Weblog-Eintrag kommt das eigentlich nicht vor ….

  4. Ich glaube, mit dieser fachkundigen Erläuterung sind nun alle (allfälligen) Fragen geklärt und auch die Begriffstutzigsten unter uns werden in Zukunft die Differenzierung zu machen wissen. Besten Dank, Kollega Haber!

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