Die Kolleg/innen vom Zentrum für Bildungsinformatik (unter ihnen auch der hier auch schon erwähnte Kollege Nando Stöcklin) an der PH Bern stellen ein neues, interessantes Projekt vor: Wikibu.ch. Diese Website verbindet verschiedene automatisierte Abfragen von bestimmten Wikipedia-Eigenschaften und stellt diese einfach und übersichtlich dar.
«Endlich!» möchte man rufen. In der Tat bietet der brandneue ((Eine erste Vorstellung dieses Dienstes erfolgt laut Auskunft von Nando Stöcklin am Bibliothekarstag in Erfurt; allerdings „versteckt“ in einem Beitrag gemeinsam mit der ZB über die Nutzungsmöglichkeiten von Wikipedia.)) Webdienst wikibu.ch konkreten Anschauungsunterricht, was mit den maschinenlesbaren Daten von Wikipedia alles möglich wäre – zugleich aber auch, welche Risiken mit solchen auf Anhieb einleuchtenden Anwendungen verbunden sind.
Wikibu.ch beurteilt einen beliebigen Artikel der deutschen Wikipedia nach folgenden Kriterien:
- Anzahl Nutzer/innen, die den Artikel im letzten Monat aufgerufen haben
- Anzahl Autor/innen, die am Artikel mitgeschrieben haben
- Anzahl Verweise auf den fraglichen Artikel von anderen Wikipedia-Artikeln
- Anzahl Quellen pro A4-Seite Text
Die Überlegungen dahinter:
Zu 1.: Je mehr Nutzer/innen einen Artikel aufrufen, umso wahrscheinlich, dass Fehler oder Lücken entdeckt und korrigiert werden. Kommentar: Die Überlegung ist plausibel, auch wenn zu bedenken gilt, dass „aufrufen“ nicht „durchlesen“ heissen muss, also auch vielfach aufgerufene Artikel in Teilbereichen, die wenig Beachtung finden, Fehler beinhalten können. Dies gilt allerdings für alle Artikel (ob viel oder wenig aufgerufen) gleichermassen, insofern gibt die statistische Wahrscheinlichkeit im Schnitt diesem Kriterium recht.
Zu 2.: Je mehr Autor/innen mitschreiben, desto vielfältiger sind die Wissensbestände und Sichtweisen, die in den Artikel einfliessen. Kommentar: Auch diese Überlegung ist plausibel, aber mit etwas grösseren Vorbehalten zu versehen, denn die Beiträge werden nur gezählt, nicht aber auf Länge und schon gar nicht auf inhaltliche Relevanz hin geprüft. Folglich kann es Verzerrungen geben, wenn in einem Artikel sich viele verschiedene Autor/innen an die Kommefehler-Korrektur machen, inhaltlich aber nur eine Person den Artikel massgeblich geschrieben hat.
Zu 3.: Hier argumentieren die Wikibu.ch-Macher/innen ähnlich wie Google und nehmen Links als Indikator für Qualität eines Dokumentes. Kommentar: Auch diese Überlegung ist plausibel und in einer strukturell flachen (alle Artikel auf der gleichen Stufe) inhaltlich aber durchaus gestaffelten Hierarchie auch eine elegante Lösung, übergeordnete Artikel (z.B. „Geschichte der Schweiz“ als Unterkapitel von „Schweiz“ mit Verzweigungen zu „Reformation und Gegenreformation in der Schweiz“ und anderen) zu identifizieren. Die Aussagekraft dieses Indikators ist dagegen mit den gleichen Vorbehalten zu sehen wie bei Google auch: es gibt bei diesem Indikator eine Neigung zur Selbstverstärkung (also: vielverlinkte Artikel bekommen mehr Aufmerksamkeit und daher auch mehr neue Links). Da keine externen Links berücksichtigt werden, ist diese Verzerrung auf wikipediainterne Aufmerksamkeits-Prozesse beschränkt – schwer zu sagen, ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist. Da wäre ein Vergleich interessant.
Zu 4.: Je mehr Quellen bei einem Artikel angeführt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Inhalt gut belegt ist. ((Mit Quellen sind dabei nicht „historische“ Quellen, sondern Informationsquellen, also im besten Falle wissenschaftliche Nachweise gemeint.)) Kommentar: Die Überlegung ist grundsätzlich sehr plausibel und als Merkmal von Qualität sehr zu begrüssen. Allerdings gilt zu bedenken, dass a) die Menge an Quellen alleine noch nichts über ihre Qualität aussagt (also ein Nachweis zu einem Standardwerk wiegt womöglich mehr als 5 Verweise auf Zeitungsartikel) und b) die Anzahl und selbst die Qualität von Nachweisen (=Quellen) sich nicht zwingend im Artikel selber niederschlagen muss. Oft werden nämlich diese Nachweise einfach angefügt, aber nicht in den Artikel eingearbeitet.
Kurzum: Wikibu.ch ist ein ausgezeichnetes Tool, um sich anhand von konkreten Kriterien mit der grundsätzlichen Frage auseinanderzusetzen, wie die Qualität von Artikeln in Wikipedia überprüft werden kann. Insbesondere ist die einfach gestaltete und einfach zu bedienende Web-Anwendung gerade zu ideal für den Einsatz in Schulen, wenn es darum geht, die Funktionsweise von Wikipedia und mögliche Prüfkriterien zu behandeln. Einzig der Umstand, dass man den genauen Wortlaut des Artikel-Titels eingeben muss, mindert die Nutzbarkeit ein wenig. Und eine Erläuterung, wieviele Autor/innen beispielsweise mitgewirkt haben müssen, damit der Artikel drei statt zwei Sterne erhält, würde diese Prüfung transparenter gestalten.
Allerdings sehe ich auch eine grosse Gefahr in diesem praktischen Tool: Die Schüler/innen werden sich vor allem darauf stürzen, um sich die Qualitätsprüfung durch wikibu.ch abnehmen zu lassen. „Ah, 8 von 10 Punkten – ok, kann ich unkontrolliert übernehmen“. Hier verstärkt wikibu.ch dann die vorhandene Haltung zu Wikipedia, dass es schon irgendwie stimmen wird, und man die Angaben einfach benutzt, solange kein Lehrer und keine Lehrerin sich beschwert. Das Risiko besteht darin, dass die Nutzer/innen sich einmal mehr einzig auf eine maschinell erstellte Näherung verlassen (wie ja bei Google auch) und das Ergebnis von wikibu.ch für das Resultat einer fundierten inhaltlichen Prüfung halten – was es deklariertermassen nicht ist.
Das ist kein Vorwurf an die Macher/innen von wikibu.ch, denen zur Idee und Umsetzung Anerkennung zu zollen ist, sondern eher eine gesunde Skepsis gegenüber den Gesetzmässigkeiten der Alltagspraxis beim Gebrauch von Web-Diensten.
Kritischer Kommentar von Klaus Graf bei Archivalia: http://archiv.twoday.net/stories/5736931/