Wikipedia: freies und unfreies Wissen?

Was soll man als Historiker/Historikerin von den Geschichts-Artikeln in Wikipedia halten? Der bereits von Peter Haber erwähnte Artikel von Maren Lorenz in „WerkstattGeschichte“ bringt ein wesentlichen Problem auf den Punkt. Wikipedia ist weder ein Lexikon mit klaren redaktionellen Verantwortlichkeiten noch eine offene Plattform, bei der jeder und jede mit gleichen Rechten (und Pflichten) mitwirken darf. Stattdessen bringt ein Blick hinter die Kulissen ein schwer durchschaubares Gewirr von Meritokratie, Kungelei und Gutgemeintem (noch immer das Gegenteil von gut) zu Tage. Es gibt Administratoren mit den technischen Möglichkeiten, Artikel einzufrieren, Benutzer/innen auszuschliessen, sogar Versionen zu löschen und ähnliches. Soweit so gut, doch wer wählt diese Administratoren auf Grundlage welcher Kriterien? Grundsätzlich ist das ein demokratischer Prozess, der fachliche Kompetenz (gemessen an den Beiträgen in Wikipedia) belohnt. Faktisch ist das ein undurchsichtiges „Ich wähle Dich, wenn Du mich wählst“-Prozedere eines inneren Zirkels.

Das kann, ja soll man im Auge behalten und kritisieren. Aber dennoch sollte man sich nicht in die Ecke jener Konspirationisten treiben lassen, die unter entlarvenden Namen wie „Wikiprawda“ und „Wiki-Hezbollah“ dem Projekt einseitige Beschneidung der Informationsfreiheit, ja sogar rechte Unterwanderung vorwerfen, weil ihre Wahrheiten in Wikipedia nicht akzeptiert werden. Ob die Beanstandungen im Einzelfall berechtigt sind oder nicht, ist eine andere, durchaus berechtigte Frage. Das führte dann zu grundsätzlichen Überlegungen dazu, wie sich die „Neutral Point of View“ im Detail auswirkt.

Bei aller Kritik gilt es auch mit Interesse solche Initiativen zu verfolgen wie die Redaktion Geschichte, die als Teil der Redaktion Geisteswissenschaften innerhalb der Wikipedia versucht, bestehende Artikel zu verbessern, die Erstellung neuer Artikel anzuregen und Fachleute zur Mitarbeite zu gewinnen. Es ist mir zwar schleierhaft, wie die zig-zehntausende Artikel von ca. 15 Personen innert nützlicher Frist verbessert werden sollen, aber schon nur die Idee, einen redaktionellen Prozess in Gang zu bringen, geht in eine Richtung, die vor kurzem niemand mit Wikipedia in Verbindung gebracht hätte. Und eine Redaktion arbeitet auf jeden Fall transparenter als Administratoren im Hintergrund (vgl. dazu das Protokoll einer ersten Online-Sitzung der Redaktion). Und doch: Solange zum einen nicht klar ist, wer genau zur Redaktion gehört (auch hier sind Viele mit Pseudonymen aktiv), nach welchen Kriterien sie Artikel beurteilen und welche Fachkompetenz sie aufbringen können, ist auch dieser Ansatz zu einer Redaktion mit gewissen Vorbehalten zu versehen.

Die Frage, wie Wissen (generell und in Wikipedia) generiert und „kontrolliert“ wird, lässt sich vermutlich nicht nur unter dem Titel „freies oder unfreies Wissen“ fassen.

Literatur:

  • Lorenz, Maren: „Wikipedia. Zum Verhältnis von Struktur und Wirkungsmacht eines heimlichen Leitmediums“, in: WerkstattGeschichte 43 (2006), S. 84-95.

18 Gedanken zu „Wikipedia: freies und unfreies Wissen?“

  1. Ich möchte daran erinnern, dass Wikipedia ein Projekt zur Erstellung einer Enzyklopädie ist und im Vergleich mit existierenden Enzyklopädien aus den Häusern Bibliographisches Institut F. A. Brockhaus oder Microsoft einen hohen Grad an Transparenz und Nachvollziehbarkeit aufweist.

    Wikipedia kann – und darf – den wissenschaftlichen Diskurs nicht ersetzen, ihre Aufgabe ist es, dessen Ergebnisse zusammenfassend darzustellen. Für diese Aufgabe sind allerdings nicht in erster Linie die Forscher selbst geeignet, sondern Redakteure, die mit angelesenem Wissen arbeiten.

    Die Schwierigkeit ist hier weniger die Komplexität der behandelten Materie als in ihrer Vermittlung zu suchen. Wikipedia ist dabei nicht als Einbahnstraße vom Schreiber zum Leser zu sehen, sondern auch der Leser ist gefordert, sich die Versionsgeschichte und die Diskussionen anzusehen, um sich so ein besseres Bild von den Artikeln zu machen, als es bei traditionellen Publikationen möglich ist oder sein kann.

    Dass es einer Handvoll Leute nicht gelingen kann, in ihrer Freizeit hunderttausende Artikel ohne Bezahlung oder weitergehende Unterstützung auf ein – je nach Gusto – nobel- oder pulitzerpreisverdächtiges Niveau zu bringen, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Bei Wikipedia besteht allerdings für den Leser die Möglichkeit, auf Fehler oder Unvollkommenheiten hinzuweisen und diese gegebenenfalls sogar selbst zu korrigieren.

    Wikipedia ist noch „work in progress“, noch ein Projekt zur Erstellung einer Enzyklopädie und nicht eine ebensolche. Sicher gibt es noch viele Artikel, die nicht mit Ihren Pendants in einschlägigen 3000-Euro-Enzyklopädien mithalten können, es gibt aber bereits Artikel, die dort fehlen oder in Wikipedia wesentlich besser sind. Jeder, der mit dem jetzigen Zustand der Artikel unzufrieden ist und einen wertvollen Beitrag zu ihrer Verbesserung zu leisten imstande ist, ist herzlich eingeladen, dies auch zu tun.

  2. Nichts gegen Vorbehalte: Die lassen sich mit allerlei Gründen erklären. Wenn man aber der Redaktion bei dem Review von Artikeln zugesehen hat, kann man feststellen, dass Leute unter Pseudonym nicht nur exzellente Artikel schreiben können, sondern auch fundiert kritisieren.

  3. Zunächst einmal: ich achte und schätze das Engagement gerade der Mitglieder in der Redaktion Geschichte, aber auch all den anderen ehrenamtlichen Mitarbeitern in der Wikipedia. Ich finde das Projekt hochgradig beeindruckend und spannend. Dennoch gibt es Kritikpunkte, und diese sind zu benennen und zu diskutieren.

    @ Carbidfischer: wir kennen das Prinzip der Wikipedia. Ich selber bin immer wieder erstaunt über ausserordentlich spannende, witzige, gut geschriebene, aber auch erschrocken über schrecklich schlechte Artikel. Geschenkt. Ich wühle oft in den alten Versionen, finde das ein überragendes Beispiel an Transparenz, wie die Artikel zustande kommen. Ich schätze, 80% der Nutzer/innen von Wikipedia wissen nicht einmal, was Versionierung ist; von den restlichen 20% benutzen sie vielleicht 2%?

    Das Problem ist, dass die Nutzung nicht dem Anspruch entspricht. Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie, viele Artikel haben bereits Umfang und Anspruch von Handbuch-Artikeln. Die Nutzung geht in eine ähnliche Richtung. Studierende (und Schüler/innen) nutzen vermehrt Wikipedia als erste (wäre für mich ok) und auch als letzte Informationsquelle. Und die denken nicht daran, etwas beizutragen oder zu verbessern. Weil sie keine Lust haben, keine Zeit, oder weil sie es einfach nicht besser wissen.

    Und die Fachleute? Abgesehen davon, dass das Argument hier auftaucht „Forscher seien nicht in erster Linie geeignet“, Ergebnisse zusammenfassend darzustellen (mit anderen Worten, eigentlich nicht so richtig erwünscht): das Beispiel des Artikels zu „Schweiz im Zweiten Weltkrieg“ zeigt mein Dilemma mit vielen Wikipedia-Artikeln auf. Das ist faktisch nicht wirklich falsch – aber so einseitig in Gewichtung und Darstellung, dass es einen Eindruck zu diesem Thema vermittelt, den ich problematisch finde. Aber diesen Artikel umzuschreiben würde mehrere Tage dauern und wäre so grundsätzlich, dass ich zahllose Auseinandersetzungen bis hin zum Edit-War befürchtete. Will ich das Risiko eingehen, von selbsternannten Experten überstimmt und abgekanzelt zu werden? Wieviel Vertrauen habe ich darin, dass sich meine Meinung mit dem „Common Sense“ der Wikipedia deckt.

    Und hier setzt die Kritik ein: nicht am Wiki-Prinzip, sondern an seiner Umsetzung mit den verschiedenen Hierarchien und Rollen. Es ist nämlich wenig voraussehbar, wo sich mit wem Konflikte ergeben können, und nach welchen Regeln diese dann ablaufen. Insofern finde ich die Redaktion Geschichte einen klaren Fortschritt: hier sind individuen identifizierbar, die für konkrete Anliegen in einem (so hoffe ich) nachvollziehbaren Prozedere eintreten.

    @ Walter Böhme: Alle guten Artikel, die ich bis jetzt angetroffen habe in der Wikipedia, hatten eine bis drei Personen, die sich für das „Wohlergehen“ des Textes verantwortlich fühlten. Verantwortlichkeit ist (für mich zumindest) auch mit Transparenz verbunden, die den Standpunkt des Autors, der Autorin (und seine Interessen, Verbindungen, Vorkenntnisse) offenlegt. Ein Assistent von Prof. X wird möglicherweise eine andere Meinung zur letzten Publikation des Professors haben, als der Konkurrent an einem anderen Lehrstuhl. Solche Kontextinformationen werden durch Pseudonyme verschleiert. Die Texte und Diskussionsbeiträge selber können, das gebe ich gerne zu, ausgezeichnet sein.

    Auch wenn Wikipedia nicht den wissenschaftlichen Diskurs ersetzen will (das geht wieder @carbidfischer), so sollte es doch wissenschaftlichen Kriterien der Nachvollziehbarkeit und Transparenz genügen, und das gilt auch für Autoren.

  4. Ich möchte auf den Abschnitt Wikiprawda und Wikihezbollah eingehen. Es handelt sich dabei selbstverständlich um bewußt kindische Wortschöpfungen mit polemischem Inhalt. Die Fakten – die kann jeder nachprüfen. Und am 1. Februar 2007 wurde der Beweis geführt, was man bei Wikipedia so unter redaktioneller Arbeit versteht. Das Beispiel ist sehr kurz und für jeden nachvollziehbar. Es handelt sich faktisch um Zensur:
    Neu: Der Nazi-Skandal bei Wikipedia treibt Zensur auf die Spitze
    Meine Anregung ist, die verschiedenen Texte am Ende des Artikels sich mal anzuhören!
    Kai Bohrmann

  5. Ich will niemandem zu nahe treten, aber Streit gibt es schnell einmal, wenn mehrere Personen gemeinsam publizieren. Für Aussenstehende ist es dann immer (auch bei der vorhandenen Transparenz in Wikipedia) schwer nachvollziehbar, wo die Probleme liegen: auf faktischer oder persönlicher Ebene.

    Das Problem von Wikipedia ist meines Erachtens die enorme Heterogenität: das problematische oder schlechte Artikel einen Klick entfernt sind von exzellenten Artikeln.

    Daher sehe ich die Möglichkeiten des „Collectivism“ etwas differenzierter; das muss nicht immer zur Verantwortungslosigkeit führen (wie auch jüngst Helge Städtler in seinem anregenden Weblog argumentierte). Laniers Kritik ist ja entsprechend von Gero von Randow in der Zeit schon relativiert worden (und war auch hier im Weblog schon Thema).

    Grundsätzlich: mehr Sachbezogenheit und weniger Erregung würde der ganzen Debatte nicht schaden. Der von Kai Bohrmann angemahnte Artikel zur Fritz Ries ist im Moment (2.2.2007) mit seinen vorgeschlagenen Korrekturen eingefroren worden.

  6. @Jan Hodel:
    Wie sehen denn die von Ihnen angemahnten „wissenschaftlichen Kriterien der Nachvollziehbarkeit und Transparenz“ konkret aus und wie würden Sie sich deren Umsetzung vorstellen?

  7. Es gibt zwei Ebenen: jene der Artikel und jene der organisatorischen Struktur (oder anders: Inhalte und Institution).

    Artikel: Hier bietet Wikipedia selber in den (durchaus vorhandenen) guten Artikeln bereits ausreichend Anschauungsmaterial. Nachvollziehbar und transparent ist eine Argumentation, wenn die zugrundeliegenden Informationen auf eine Art und Weise angegeben werden, die eine Überprüfung ermöglichen (Fussnoten, saubere Zitationen).

    Darüberhinaus ist Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei den Autoren dann gegeben, wenn klar ist, was die betreffende Person sonst noch geschrieben hat. Das gilt bereits für Versionen von Wikipedia-Artikel und für Übersichten, in welchen anderen Artikeln eine Person geschrieben hat – oft aber nur, wenn diese Person von sich aus fleissig darlegt, was sie in Wikipedia macht. Referenzen auf Tätigkeiten oder Publikationen ausserhalb von Wikipedia hingegen sind bei den Personenbeschreibungen sehr sehr rar. Warum eigentlich?? Die Nennung eines Klarnamens ermöglicht eine selbständige Überprüfung der Personenangaben durch die Leserschaft. Ist Person z wirklich an Institut B angestellt? Hat Person x wirklich Artikel y geschrieben? usw.

    Hier setzt auch die Kritik an der Struktur der Organisation an: es ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar und transparent, warum welche Benutzer/innen für wie lange mit Administratorenrechten ausgestattet werden, auf welcher Grundlage, bzw. mit welchen Mitteln sie ihre Entscheide fällen und wem sie darüber Rechenschaft schuldig sind. Das ist alles ausserordentlich vage.

    Oder auch zur Redaktion Geschichte in Wikipedia (wie gesagt, finde ich eine wichtige und unterstützungwürdige Initiative, dennoch:): Gibt es ein Statut? Wie oft trifft sich die Redaktion? Was entscheidet sie? Wie? Wie werden Konflikte ausgetragen, wenn man sich über Qualität eines Artikels nicht einig ist? Wer darf mitmachen? Wie verbindlich sind Absichtserklärungen und Beschlüsse? Wer kontrolliert das, wer sorgt für Umsetzung und Einhaltung? Natürlich, das ist formalistisch in dieser Aufzählung – aber dieser Formalismus ist halt auch entstanden, um eben Entscheide oder Handlungen nachvollziehbar und transparent zu machen und vor Willkür zu schützen. Ich habe in genügend informellen Projekte mitgewirkt, um diese Organisationsform schätzen zu lernen. Aber ich weiss auch, dass informelle Organisationen dazu neigen, „Insider“-Organisationen zu werden.

  8. @Jan Hodel

    Der Vollständigkeit halber muss ich Ihnen mitteilen, dass der von mir angemahnte Artikel zur Fritz Ries im Moment (2.2.2007) eben nicht mit meinen vorgeschlagenen Korrekturen eingefroren worden ist.

    Dieser von mir fach- und sachkundig überarbeitete Text enthielt nicht nur das aus den Quellen recherchierbare Sterbedatum Sommer 1977, sondern auch den zweiten Vornamen, Karl. Ebenfalls war der Text gekürzt und mit Einzelbelegen versehen. In die Weblinks wurde ferner die Arbeit eines Wissenschaftlers des Projektes „Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich“ des „Instituts für Soziologie“ an der Universität Graz aufgenommen.

    Das was die Weltöffentlichkeit durch (unbegründete) Eingriffe der Administratoreln Seewolf, AT und Tobnu nun sieht, ist eine zensierte Version (niemand kann den Artikel mehr korrigieren). Das ist ungefähr das redaktionelle Niveau bei Wikipedia.

    Hier tut dringend eine Professionalisierung Not. Aber in dem von Peter Haber erwähnten Artikel wird zu Recht die Frage aufgeworfen, ob es Larry Sanger mit seiner „Professionalisierung“ bzw. „gentle expert guidance“ richtet. Solange die Propaganda des NPOV durchgeführt wird, solange sind gewissen Entwicklungen Tür und Tor geöffnet.

    Ich gehe davon aus, dass hier alle auf einem Stand sind, was Jimbo Wales vom NPOV in der Praxis – wie er damit umgeht. Und es ist kein Wunder dass man eine Fiktion wie den NPOV zu Zwecken einsetzt, die einem dann die angenehmen Ergebenisse bringt.

    Mein Tipp ist nicht nur Lanier zu lesen. Hören sie auch Michael Schetsche, Jason Scott und lesen Sie mal die Ausführungen von Lir. Wenn man die Wikipedia von Außen betrachtet, und das ist die Mehrzahl, und das ist in Ordnung, dann erkennt man nur den Nutzen:

    Schnell einen Informations-Happen ohne Verläßlichkeit, als Ausgangspunkt für eigene Recherchen. Andere machen sich diese Mühe nicht.

    Wenn man allerdings IN der Wikipedia eingebunden ist, begreift man sehr schnell den Begriff „Wissen ist Macht“. Dazu muss man Schetzsche und Scott gehört und Lir gelesen haben (als Außenstehender). Alle drei sind auf der Homepage aufgeführt zum Donwnload bzw. anklicken.

    Ich weiß, dass ich bei vielen wegen meiner Polemik nicht ankomme. Das macht mir gar nichts aus, denn es ist mein Naturell. Was ich auch weiß, dass ist, dass meine Fakten überzeugen. Sie sind jederzeit überprüfbar und für die Weltöffentlichkeit einsehbar.

    Letzter Punkt: Das was ich zum Schluß gesagt habe, die Datensammlung der Wikipedia Foundation Inc., die überall auf der Welt zugänglich ist, das wäre z.B. in Deutschland m.W. verboten. Man muss sehr genau wissen, …. KB

  9. Nachtrag in Kürze: Jason Scott regt sich gar nicht mehr darüber auf, worüber sich andere aufregen, also die Diskrepanz zwischen Werbeaussagen und Realtität. Ihm geht es um etwas ganz anderes. Nämlich dass das Phänomen Wikipedia die erste Welle eines globalen Informations-Krieges ist.

    Dass das (auch eine) Realität ist, wird niemandem entgangen sein.

  10. Hier sind die Quellen. Schetsche ist sehr, sehr vorsichtig, in dem, was er sagt. Aber es gibt kaum Anlaß zu vermuten, dass die Hörer es nicht begriffen haben. Scott kann nicht mißverstanden werden, wie üblich beschreiben Amerikaner einfach und verständlich. Wer sich als Erwachsener Mann noch nicht von einem Schulbub bei Wikipedia hat zerlegen und auslachen lassen (siehe auch Larry Sanger Text), der kann sich ja mit Empathier bei Scott hineinfühlen. Ansonsten ist noch der Text von Lir empfehlenswert (er nennt es Cabal, ich nenne es Sekte, und bin damit nicht der erste, der den „Laden“ so bezeichnet).

    Audio

    Michael Schetsche: Interview in Deutschlandradio, 24.01.2007 14:12 (mp3, 2 MB)
    Jason Scott: The Great Failure of Wikipedia. 08.04.2006. Audio: 64Kbps MP3 (20,5 MB), Text: Transcript

    Texte

    Lir: A Criticism of the Wikipedia. Kapitalism.net
    Jaron Lanier: On Digital Maoism: The Hazards of the New Online Collectivism. The Edge. 30.05.2006
    Nicholas Carr: The amorality of Web 2.0. 03.10.2005
    Larry Sanger: Wikipedia-Mitbegründer Larry Sanger über seinen Abgang beim Online-Lexikon, den Konsens der Massen und sein neues Projekt. Sonntagszeitung. 17.12.2006
    Bernd Graff: Krise der Wikipedia. Unleserlicher Mist. SZ 07.12.2005

  11. Trotz aller Kritik, die ich an Wikipedia übe und auch weiter üben werde, halte ich Bezeichnungen wie „Sekte“ oder „Laden“ nicht für geeignet, um die Problematik in einer Art zu analysieren, die Lösungen oder Alternativen aufzuzeigen vermag. Kritik, die darauf abzielt, Wikipedia als „gescheitert“ oder grundsätzlich als irreführend zu bezeichnen, führt meines Erachtens weder zu neuen Einsichten noch zu irgendwelchen Veränderungen, sondern zementiert nur „wir“-„sie“-Konstellationen.

    Das seltsame Dinge in Wikipedia geschehen und dass auch Administratoren unrühmliche Rollen spielen können, ist wenig bestritten und wird auch noch in diesem Blog thematisiert werden. Im Moment möchte ich die Diskussion hier fürs erste beenden und bei weiterer Gelegenheit wieder aufnehmen. Die wesentlichen Argumente und Links wurden platziert. Interessierte können sich selber ein Bild machen.

  12. Nur als kleiner Offtopic-Hinweis: Die von K.B. angesprochene „Datensammlung der Wikipedia Foundation Inc.“ bezieht sich in sonstigen von K.B. veröffentlichten Texten augenscheinlich auf Interiots Edit-Counter, der durch den jeweiligen Autor explizit freigeschaltet werden muss. Damit ist es höchst unwahrscheinlich, dass er, wie oben vermutet, in Deutschland verboten wäre.

  13. (Wegen eines technischen Defekts war das Interview mit Michael Schetsche beim Deutschlandradio einige Zeit lang nicht verfügbar. Der Fehler wurde heute dort behoben.)

    Neue Adresse:

    Michael Schetsche: Interview in Deutschlandradio, 24.01.2007 14:12 (mp3, 2 MB)

    Michael Schetsche ist Leiter der Abteilung “Empirische Kultur- und Sozialforschung” am “Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene” in Freiburg.

  14. Zitat: „Wer sich als Erwachsener Mann noch nicht von einem Schulbub bei Wikipedia hat zerlegen und auslachen lassen…“

    In vielen Jahren Wikipedia-Arbeit ist mir aufgefallen: gerade Wissenschaftler tun sich unheimlich schwer damit, die eigenen Edits von einem Nicht-Fachkollegen auch nur hinterfragen zu lassen, geschweige denn sachlich gar einmal korrigiert zu werden. Das mag am deutschen Universitätsbetrieb liegen, der wohl Speichellecker eher befördert als kritische Geister, auch an einer gewissen mangelnden Medienkompetenz (eine Enzyklopädie ist z. B. in den allermeisten Fällen eben kein Platz für die Erstveröffentlichung wissenschaftlicher Arbeit).

    Oder aber es ist doch nur eine Form von Arroganz, deren Fehlen ich in der Wikipedia als extrem angenehm empfinde.

    Ich habe z. B. schon zwei Weikipedia-Administrator-Schulbuben online und persönlich getroffen, und glaube sagen zu können, dass diese Begegnungen und Gespräche bei weitem angenehmer und interessanter waren, als Wikipedia-Begegnungen mit irgendwelchen Prof. Dr., die nur mit Publikationslisten fuchteln und das Diskutieren verlernt haben. Auch das genaue Gegenteil kann der Fall sein: jugendliche Nervensägen ohne viel Ahnung, aber mit umso mehr Meinung, stehen auch mal unglaublich geduldigen und netten Professoren gegenüber. Bei Wikipedia arbeiten zum Teil Leute mit, die ich als Doyens ihres Fachs bezeichnen würde – nur arbeiten die eben meist unauffällig. Wie im richtigen Leben halt: es gibt solche und solche.

    Die Diskussion gerade mit Fachfremden und Laien fördert übrigens Allgemeinverständlichkeit und oft überraschende interdisziplinäre Sichtweisen, die die Wikipedia – bei allen ihren Mängeln – in vielerlei Hinsicht weit über viele Fachlexika hinausheben.

    Wikipedia soll auch in dieser Diskussion mal wieder alle Anforderungen an ein demokratisches Staatswesen (Wahlen, Meinungsfreiheit etc.) und gleichzeitig eine Anarchie (nur keine Aufsicht, Admins sind per se böse) erfüllen. Außerdem soll sie ein Personaldossier ersetzen (Nennung von Klarnamen, Beruf, Adresse), ein Peer Review wie führende Fachzeitschriften darstellen, ja eigentlich am besten überhaupt allwissend und unfehlbar sein. So etwas gibt es nicht. Wie Carbidfischer richtig ausführt: es ist ein Projekt zur Erstellung einer Enzyklopädie. Kein Mensch verlangt das alls vom völlig intransparenten, anonym verfassten Brockhaus – völlig zurecht.

  15. Auf die Gefahr hin, dass mir das nicht geglaubt wird: es geht mir nicht um Status, wenn ich Unbehagen gegenüber Pseudonymen äussere. Ich glaube (und das Wort „glauben“ wähle ich mit Bedacht, denn ich äussere hier meine Überzeugung), dass gute und valide Artikel, Bücher, Filme usw. von Menschen gemacht werden, die sich für das Ergebnis verantwortlich fühlen (oder für das vorläufige Ergebnis, wenn es wie bei Wikipedia nie ganz fertig ist). Das kann man auch in Wikipedia an den meisten, vermutlich an allen guten Artikeln sehen. Und das äussert sich ja auch darin, dass sich Wikipedianer zu Fachredaktionen zusammenschliessen.

    Zur Verantwortlichkeit und zur Transparenz gehört aber auch die Erkenntnis, dass Wikipedia nicht ein machtfreier Raum ist: es gibt Menschen, die mehr Einfluss und (mit unterschiedlich nachvollziehbarer Begründung) mehr technische Rechte besitzen. Das mag für viele Wikipedianer/innen offensichtlich und banal sein – für die Masse der Benutzer/innen ist es das nicht.

    Für mich gehört zur Verantwortlichkeit auch das Vertrauen gegenüber jenen, die für ein Produkt verantwortlich zeichnen. Dabei sind Klarnamen nicht Bedingung – aber sie können helfen, einen Eindruck zu gewinnen. Dem Vertrauen förderlich sind auch etablierte und bekannte Prozesse, wie bei Brockhaus, wo ich weiss, dass eine Redaktion (die namentlich in jedem Band zeichnet) Beiträge von verschiedenen Autor/innen einsammelt und prüft. Und wenn Brockhaus Mist baut, dann kann ich im Schlimmsten Fall vor das Gebäude an der Dudenstrasse in Mannheim gehen und dort Farbbeutel werfen oder gegen die Firma Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG Klage einreichen. Bei Wikipedia kann ich hoffen, mit meinen Anliegen auf vernünftige Gesprächspartner zu stossen – und das ist auch oft der Fall. Aber was, wenn nicht? Bei Wikipedia müssen sich die Prozesse noch einspielen, bewähren und nicht nur den sehr aktiven Wikipedianer/innen vertraut werden. Das ist zugegebenermassen auch eine Aufgabe der „Aussenstehenden“ – aber nicht nur.

    Mit dem Hinweis auf den Projekt-Charakter von Wikipedia wird meines Erachtens gerne viel im Unklaren gelassen. Gerade weil es Pionier- und Projekt-Charakter hat, ist eine klare Analyse von solchen Fragen wichtig und eben nicht einfach nur Korinthenkackerei und Status-Dünkel von Leuten, die nicht einsehen wollen, dass die neue Zeit ohne sie auskommt. Es verlangt niemand, dass Wikipedia die eierlegende Wollmilchsau alle Enzyklopädien wird. Aber man könnte doch auch mal eine kritische Anmerkung von aussen zum Anlass nehmen, sich selbst zu hinterfragen.

  16. Pingback: Interner Link
  17. @15: Ich stimme grundsätzlich zu. Und ich bin der letzte, der dem Projekt unkritisch gegenüber steht.

    Aber mich stört eben, dass alle Welt das Lexikon nutzt und zumeist auch in gewissem Sinne mag, und dennoch die abstrusesten Kritiken meist unwidersprochen abgenickt werden, vor allem vorurteilsbeladene (wie die Rede von den „Schulbuben“: herrje, dann macht die Jugend schon mal was sinnvolles und muss sich trotzdem dauernd nur Genöle anhören, sobald mal etwas nicht 110% toll gelaufen ist) und eben die von Verschwörungsfreunden (Wikiprawda…) aller Art. Ich habe da schon soviel Unsinn und persönliche Angriffe – und vor allem solche von Möchtegernkennern mit enormem Statusdünkel – lesen müssen, dass ich da wie viele Wikipedianier vielleicht tatsächlich etwas zu dünnhäutig geworden bin.

    Wie gesagt: das Projekt ist riesig, und hat eine riesige Anzahl von Beiträgern und Lesern. Bei so etwas gibt es wohl immer Bereiche und Prozesse, die unausgegoren bis peinlich sind, aber es gibt eben auch wirklich exzellente Arbeit. Vergessen wir nicht: es geht hier um altruistische Wissensvermittlung. Dass das auch Sendungsbewusste aller Art anzieht, ist klar, aber ich denke doch, dass das Beharren auf dem „Neutralen Standpunkt“ in der de.wikipedia bisher noch ganz gut funktioniert.

    Zur Verantwortlichkeit und Pseudonymen: ich halte es für ganz gut, wenn nicht jeder mit Klarnamen arbeiten „muss“ (man darf ja durchaus, Beispiel: ich). Es gibt Interessensbereiche, die gehen aktuelle und potentielle Arbeitgeber, aber z. B. auch Verfassungsschützer, oder die Oma, einfach nichts an. Ich meine hier nicht nur die persönlichen Interessen bei Sexualität, Krankheiten, Politik, sondern auch Fachartikel (ein Doktorand traut sich vermutlich nicht immer, den Professor zu widerlegen; ein Atomphysiker, der Siemens-Mitarbeiter ist, dürfte die Gefahren der Atomkraft kaum unter Klarnamen deutlich ausdrücken wollen, usw.). Dennoch finde es ich eine gute Sache, wenn Kenner auch in solchen Fällen – neutral und mit Quellenangaben – einen Lexikonartikel verfassen können.

  18. Zur “Spezialbehandlung” des Dr. Fritz Ries bei der deutschsprachigen Wikipedia möchte ich nachtragen, dass das wirklich nur mit völliger Unwissenheit, oder eben rechtsgerichteter Gesinnung erklärt werden kann. Wie anders ist denn zu erklären, dass über 30 Jahre alte Fakten, bei informierten und gebildeten Menschen, die z.B. DER SPIEGEL und die FAZ lesen, bekannt sind, da nicht aufgeführt werden dürfen? Und was soll diser kindische “Neutralitätsbaustein”? Vorsicht Nazi – wäre doch viel eher angebracht.

    Und: Weder die FAZ, noch DER SPIEGEL haben jemals das Aktenzeichen veröffentlicht! Den Prozess Ries ./. Engelmann gab es. Siehe FAZ vom 23.01.1975 (”Der Engelmann-Prozess”), 31.01.1975 (”Der Angegriffene darf sich wehren”) und 21.05.1975 (”Die stummen Zeugen lagen in einer Kapelle bei Auschwitz: Der Einfluss des Unternehmers Fritz Ries und ein Prozess um seine Vergangenheit”). Ferner DER SPIEGEL (4/1975) – 20.01.1975: “PROZESSE: Nach Lodz”. Die ganzen Schweinereien von Ries sind insbesondere in der FAZ ausführlich beschrieben – ich frage mich nun: Wie lange soll der Dr. Fritz Ries bei der Wikipedia noch geschützt werden? Das bringt doch alles aus meiner Sicht nichts, die seit 30 Jahren bekannte Wahrheiten nicht zuzulassen.

    Es erscheint dumm, die Geschichte neu schreiben zu wollen, weil es einflussreichen Kräften bei der Wikipedia so gefällt. Liest man bei den Kommentaren – wird man fündig: “Ries sieht die Radieschen von unten und Schleyer ist auch tot – wozu also noch die Aufregung, ob oder wie weit beide worin verstrickt waren? Das klingt allzu sehr dananch, dass Schleyers vermutlich noch lebende Mörder quasi reingewaschen werden sollen.” [Yotwen, 18:42, 28. Mai 2007].

    Es gibt also ganz offenbar politische Motive, die Weißwaschung des Dr. Fritz Ries zu betreiben. Eine Weißwaschung nach 30 Jahren, wohlgemerkt!

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