Geschichtstage: Nationalgeschichte

Ich klinke mich nun auch in das Tagesgeschehen ein und sitze im überfüllten Raum 101 beim Panel „Die ewige Eidgenossenschaft. (Wie) Ist im 21. Jahrhundert Nationalgeschichte noch schreibbar?„, das offenbar auf ausserordentlichen Zuspruch stösst. Das Gedränge im Raum findet seine Entsprechung im dichten Programm mit wiederum sehr dichten Vorträgen. (Hier noch eine grundsätzlich Bemerkung zum Tagungsformat: der Vortrag lebt. Keine einzige Powerpoint-Folie erhellt die Wände des Seminarraums, kein Lüfter-Geräusch erschwert die Verständlichkeit der mündlich vorgetragenen Überlegungen).

Thomas Maissen stellt in seinen einleitenden Bemerkungen die Vermutung, dass die Frage, ob es noch eine Nationalgeschichte brauche oder geben könne, eine typisch schweizerische Frage sei. Hat die Nationalgeschichte in der „Willensnation“ Schweiz eine besondere, rein politische Funktion, da keine kulturellen, sprachlichen oder geographischen Gemeinsamkeiten eine nationale Identität (und damit eine nationale Geschichte) legitimieren? Oder ist im Zeitalter der supranationalen Organisationen das Denken in nationalen Kategorien obsolet geworden? Oder ist im postmodernen Modus der Geschichtsschreibung das Denken in nationalen Kategorien einfach nicht mehr en vogue – zumindest nicht mehr in den Wissenschaften? Jedenfalls beklagt Maissen einerseits die Vereinnahmung der Nationalgeschichte durch nur eine Seite des politischen Spektrums und fordert eine Nationalgeschichte, die unter anderem auf „obschon“-Formulierungen verzichtet, sondern den Tatbeständen auf den Grund zu gehen und sie zu erklären versucht. („Obschon die Schweiz gegen die nationalsozialistischen Parolen immun war, erlagen doch einige den Schalmeienklängen der NSDAP“ – sinngemässes Zitat).

Diesem Fragekomplex nähern sich die Referent/inn/en aus verschiedenen Blickwinkeln. Irene Hermann betrachtet die Verbindung von Nationalgeschichte und Demokratie: fördert das Eine das Andere. Oder behindern sich die Konzepte gegenseitig? Auf jeden Fall wird in einer demokratischen Gesellschaft die Legitimität eines hermetischen Narrativs aufgeworfen: hat die Mehrheit einfach recht? Mario König und Oliver Zimmer (kurzfristig für den verhinderten Georg Kreis eingesprungen) versuchen darzustellen, dass ein Annähern an Nationalgeschichte auch mit anderen Fragestellungen möglich ist: als sozialgeschichte des Bürgertums etwa (König) oder als Untersuchung von Auswirkungen nationaler Identität auf lokale, kommunale oder städtische Gesellschaften (Zimmer). Christoph Conrad weist, an Maissen anknüpfend, auf die Bedeutung des Vergleichs hin. Der Vergleich ermögliche etwa die Erkenntnis, dass der nationale „Sonderfall“ oder „Sonderweg“ fast schon eine Konstante in nationalen Geschichtsschreibungen sei. Auch sonst lässt sich aus dem Vergleich viel Erkenntnis über die jeweiligen nationalen Identitäten gewinnen. Dies setzt allerdings das Denken in nationalen Kategorien (gleichsam als Container) voraus, um überhaupt einen Vergleich anstellen zu können. Ein weitere Schritt wären dann Forschungsprojekte und daraus resultierend Darstellungen, die transnationale Fragestellungen behandelten.

Am Ende bleibt aber die Frage des Panels offen. Klar scheint nur, dass es weiterhin Nationalgeschichten gibt, weil sie vom Publikum nachgefragt werden und weil Nationen noch immer eine Realität alltagsweltlichen Denkens und individueller, kultureller und politische Identität bilden. So steht als Postulat am Ende die Forderung (oder der Wunsch) nach einer neueren schweizerischen Nationalgeschichte.

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