Ich möchte hier anlässlich des heute erschienenen NZZ-Beitrags zur Rolle des Internets und insbesondere von Wikipedia für den Geschichtsunterricht einige kurze, ergänzende Überlegungen zur Wikipedia-Nutzung und des Copy/Paste-Phänomens (oder – wahlweise- : der Plagiats-Seuche) in den Schulen und damit auch im Geschichtsunterricht anbringen.
Eine zentrale, oft gestellte Frage: Haben die Schüler/innen kein Unrechtsempfinden? Hebeln sie einfach alle Werte von Schulunterricht und Wissensgesellschaft kaltschnäuzig aus, weil ihnen diese egal sind? Oder wissen sie es einfach nicht besser? Man kann die Frage natürlich auch grundsätzlicher stellen: Ist das Plagiieren in der Schule einfach nur Ausdruck eines gesellschaftlichen Wertewandels, der durch die unbegrenzte Zugänglichkeit zu digitalen Informationen aller Art induziert wird? Die Realität ist, wie so oft, komplex.
Natürlich wird man davon ausgehen können, dass sich Schüler/innen in der Schule oft berechnend und opportunistisch verhalten: Sie versuchen mit möglichst wenig Aufwand einen möglichst grossen Nutzen zu erzielen. Die nahe liegenden Erwägungen, inwiefern sich hier das Ideal des homo oeconomicus in der Schule (wie von einigen Exponenten der bildungspolitischen Debatte erwünscht) niederschlägt, seien hier einmal ausgelassen. Schüler/innen haben schon im analogen Zeitalter versucht, zu tricksen, wenn ihnen dies nötig erschien.
Die Vereinfachungen in der Erreichbarkeit und Verarbeitung der digital vorliegenden Informationen führen jedoch zu neuen Chancen und Herausforderungen. Copy/Paste ist zunächst einmal als eine Arbeitsform des Sammelns von Informationen zu verstehen: die Zwischenablage wird zum digitalen Klemmbrett, auf dem sich Schnipsel und Notizen von Recherche-Vorgängen ansammeln. Die Intensität der anschliessenden Verarbeitung (von plattem Copy/Paste zu Shake/Paste oder ausführlichen redaktionellen Bearbeitungen oder Zusammenfassungen in eigenen Worten) hängt vom Interesse, dem Zeitdruck, dem Verwendungszweck und der Einschätzung von Nutzen der Arbeit ab. Copy/Paste-Verhalten ist so gesehen ein «unvollständiger» Arbeitsprozess. (vgl. hierzu meinen früheren Eintrag zu Copy & Share).
Die Erhebungen meiner laufenden Dissertationsarbeit lassen darauf schliessen, dass den Schüler/innen grundsätzlich darum wissen, dass Kopieren «irgendwie» problematisch ist – allerdings beurteilen sie die konkrete Praxis unterschiedlich. Eine ganzen Text einfach nur zu kopieren – dass dies nicht statthaft ist, leuchtet den meisten Schüler/innen ein. Dass aber auch einzelne Passagen zu kopieren unrecht ist, dass auch bearbeitete (gekürzte, vereinfacht) Texte, die kopiert wurde, als Plagiat gelten, und dass ein Hinweis am Ende eines Textes im Stile von „Quelle: Wikipedia“ nicht ausreicht: das wissen Schüler/innen oft nicht – und sie tun sich auch schwer, das zu akzeptieren, die die Konsequenzen (korrektes Zitieren mit Anführungszeichen, detaillierter Nachweis jedes Zitats, komplettes Neuschreiben aller nicht zitierten Textteile) mit erheblichem Mehraufwand verbunden sind.
Hier ist die Aufklärung über die Dimensionen und das korrekte Verhalten eine zentrale Aufgabe gerade der Mittelschulen. Das „Kopieren“ müsste dann in verschiedener Hinsicht zu problematisiert werden:
- Kopieren als «Diebstahl»: Informationen nicht immer «frei»: Sie werden von jemandem produziert und zur Verfügung gestellt – manchmal kostenfrei, manchmal gegen Entgelt, aber im Prinzip handelt es sich immer um geistiges Eigentum, das nicht einfach ungefragt weiterverwendet werden darf. Das ist ein Bruch zur Welt, in der sich die Schüler/innen in der Schule normalerweise bewegen: Das in der Schule verhandelte Wissen begegnet ihnen als Allgemeinwissen, dass allen und niemandem gehört. Sei es die Höhe des Kilimandscharo, der Satz des Pythagoras, die Machtergreifung Hitlers: Dieses Wissen ist Allgemeingut. Hier aufzuzeigen, dass der konkrete Text, den eine Person zu diesem Wissen verfasst hat, dieser Person «gehört», muss erst einmal deutlich gemacht werden. Komplizieren kommt hinzu, dass gerade Wikipedia, als wichtigste Bezugquelle explizit ihre Inhalte zur freien weiteren Verfügung stellt. Hier wird diese Grundprinzip von geistigem Eigentum also bewusst aufgehoben – auch das muss erst einmal kontextualisiert werden.
- Kopieren als «Täuschung»: Dass es schlicht Betrug ist, wenn man versucht, in einer Prüfungssituation mit einer aus dem Internet kopierten Textvorlage eine gute Note zu erhalten, ist vergleichsweise einfach verständlich zu machen. Andererseits gilt zu bedenken, dass die Auswahl, Bearbeitung und Zusammenstellung von kopierten Texten durchaus auch eine Leistung darstellt, die durchaus anspruchsvoll und Ausdruck von intensiver Auseinandersetzung mit einem Thema sein kann (- nicht muss…). Hier geht es weniger um Betrug und Täuschung als um Intransparenz: die Leser/innen (und wenn es nur die Lehrperson oder die Mitschüler/innen sind) haben ein Anrecht darauf zu wissen, wo welche Aussagen genau herkommen. Ein transparenter Nachweis ermöglicht den Leser/innen, die Aussagen zu überprüfen oder zu erweitern, und lässt die Leistung beim Zusammenstellen und Bearbeiten auch besser zur Geltung kommen.
Das Nachweisen erfüllt mit der Herstellung von Transparenz auch einen anderen Zweck – den der Qualitätssicherung. Wenn klar wird, woher die Informationen kommen, kann auch ihre Qualität besser abgeschätzt werden, bzw. nur so kann überhaupt bewusst darüber nachgedacht und diskutiert werden, welche Informationen auf Grund welcher Kriterien als «besser» oder «schlechter» zu beurteilen sind. Das führt dann auch den Weg aus der Wikipedia-Misstrauen-Verbots-Falle: weil nicht klar ist, woher die Informationen der Schüler/innen kommen und weil nicht klar ist, welche Qualität die Informationen bei Wikipedia haben, neigt man in der Didaktik dazu, durch Verbote – oder neuerdings eleganter: durch Problematisieren der Entstehungszusammenhänge von Wikipedia – die Nutzung der Online-Enzyklopädie durch die Schüler/innen zu vermindern oder grad ganz zu unterbinden. Das ist nicht nur illusorisch, sondern potentiell kontraproduktiv, wenn etwa eine Schülerin zu Protokoll gibt, dass sie lieber nicht Wikipedia benutze, das sei so unsicher, sondern dass sie lieber auf andere Internet-Quellen zurückgreife. Denn diese Informationen sind unter Umständen von noch weitaus geringerer Qualität als bei Wikipedia.
Insgesamt wird die Didaktik sich Gedanken dazu machen müssen, wie eine handhabbare Praxis im Umgang mit Wikipedia und anderen Internet-Ressourcen in der Schule aussehen kann. Eine wissenschaftliche Methodik mit Detail-Nachweisen aller direkter Zitate wird schnell zur formalistischen Tortur und ist im Schul-Alltag nicht immer sinnvoll. Desgleichen wird auch die Schulung von „Wikipedia-Kompetenz“, die das kritische Überprüfen der Artikel im Hinblick auf Autoren und Versionen zum Gegenstand hat, im Alltag, wo die Praxis des schnellen Nachschlagens etabliert ist, nicht unbedingt zu den gewünschten Erfolgen führen (dennoch befürworte ich eine Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Wikipedia im Unterricht).
Ein Fortschritt wäre die Etablierung einer Praxis, in der selbstverständlich wird, die Transparenz über die Herkunft von Informationen herzustellen und damit grundsätzlich die Frage nach der Entstehung von Wissen zu thematisieren. Ein erster Schritt könnte sein, dass die Schüler/innen sich daran gewöhnen abschnittweise präzise nachzuweisen, welche Vorlagen als Grundlage dienten und woraus kopiert wurde, und zumindest ganze, unveränderte Sätze durch Kursiv- oder Fettschrift zu kennzeichnen.
Zum Thema „Wikipedia und Geschichtswissenschaften“ (inkl. Geschichtsdidaktik) beachte die geneigte Leserschaft bitte auch unsere entsprechende Projektseite bei hist.net und die weiteren Einträge zum Thema Wikipedia in diesem Weblog.
Wie so oft bei diesem Thema kommt das Lehrpersonal im Text nicht vor. Gerade die von Lehrern und Universitätslehrpersonal bereitgestellten Folien und Unterrichtsmaterialien zeichnen sich meiner Erfahrung nach dadurch aus, dass hemmungslos kopiert wird, wobei die Quelle extrem schlampig oder gar nicht angegeben wird. Solange das so ist, kann man von Schülern und Studierenden kaum verlangen, ein Unrechtsbewusstsein aufzubauen.
Das gilt eigentlich sogar für den ganzen Unterrichtsablauf und die Inhalte des Unterrichts. Welcher Lehrer nennt schon vor oder nach der Unterrichtsstunde seine Quellen?
Die Beobachtung ist richtig: die Lehrpersonen sind genauso ein Teil der Gleichung, wie die Lehrpläne, Bildungspolitiker oder Eltern und damit die gesellschaftlichen Erwartungen an die Schule – das ging beim hier vorliegenden Fokus auf die Schüler/innen etwas unter, ist aber natürlich von Bedeutung. Bei den Lehrpersonen wird man genau gleich opportunistisches Verhalten annehmen dürfen wie bei den Schüler/innen – auch sie versuchen in ihrem Handeln eine gute Balance zwischen Aufwand und Ertrag zu finden. Aber auch bei den Lehrpersonen gilt es, differenziert zu urteilen – nicht alle kopieren einfach hemmungslos, und Kopien von eigenen, früher erstellten Unterlagen oder Kopien von Vorlagen der Kolleg/innen sind schon etwas anders zu beurteilen, auch wenn es sich technisch um Kopien handelt. Was die konsequente Anwendung des Nachweises betrifft, sind die Lehrpersonen in der Tat selber als Vorbilder gefragt – und werden hier auch ihre eigene Praxis hinterfragen müssen.
Grade zu Wikipedia und Geschichte stiess ich hier auf diesen interessanten Artikel: „But is it History?“ (http://histsociety.blogspot.com/2010/09/but-is-it-history.html) – Wie sollen also Schüler lernen, mit Wikipedia umzugehen, wenn selbst Bücher erscheinen, die komplett auf Wikipedia beruhen und dies zur Methode ausrufen?
Und zweitens wird die spannende Frage angeschnitten, von welchen Ideen von Geschichte und wissenschaftlichen Arbeiten man ausgehen kann und, dann übertragen auf die Schule: welche wissenschaftlichen Ideale an Schüler vermittelt werden (unabhängig von der technologischen Entwicklung)
Sehr schöner Hinweis, vielen Dank.