Angesichts der zentralen Bedeutung, die Lunsford und Ede in ihrer Untersuchung über das kollaborative Schreiben den Machtverhältnissen und Hierarchien in den gemeinsam schreibenden Gruppen beimessen, wird das Potential von Wiki, oder genauer von Wikipedia deutlich.
Lunsford und Ede stellten fest, dass bei den von ihnen untersuchten kollaborativen Schreibprozessen die Machtkonstellationen unterschiedlich mit der tatsächlichen Schreibbeteiligung und der schliesslichen Kennzeichnung der Autorschaft korrelierten. Sie stellten einerseits zwei Typen der Kollaboration fest: einen hierarchischen (Der Chef strukturiert, die Unterstellten schreiben, der Chef entscheidet) und einen kollegialen (alle Beteiligten entwickeln gleichberechtigt den gemeinsamen Text).
Allerdings müsse der hierarchische Typus keineswegs immer in der (aus der Sicht der kritischen Theorie naheliegenden) ausbeuterischer Form vorliegen. Der hierarchische Modus könne auch mit geteilter Macht und Autorschaft sehr effizient zu Prozessen und schliesslich Ergebnissen führen, die für alle Beteiligten sehr zufriedenstellend seien (S. 134).
Auch bestehe kein zwingender Zusammenhang zwischen Macht und Einfluss bei der Textgestaltung und Autorschaft beim Endprodukt. Es gäbe hier verschiedene Mischformen.
Entscheidend scheint mir folgende Feststellung von Lunsford und Ede in Bezug auf das von ihnen untersuchte Sample, das vor allem aus männlichen, angelsächsischen Weissen aus Wissenschaft, Privatunternehmen und Verwaltung bestand: „The fact that collaborative writing is so readily accepted in this world may be connected to this world’s homogeneity. What, we wonder, will result when such a context changes, when the professional work scene is populated much more by women and people of color?“ (S. 138)
Auch wenn die Frage offen bleiben muss, warum zu Ende der 1980er Jahre diese Durchmischung in den USA offenbar noch nicht stattgefunden hat (oder haben soll) – interessant bleibt der Aspekt der Homogenität. Er bezieht sich auch darauf, dass die Beteiligten an kollaborativen Prozessen sich gegenseitig bekannt sind. Das heisst, es herrschen soziale Beziehungen, eventuell auch Machtgefälle zwischen den Beteiligten, die sich in den Arbeitsprozessen abbilden können. (Anmerkung: Lunsford und Ede untersuchten konventionelle Formen des kollaborativen Schreibens, ohne Unterstützung durch neue Informationstechnologien wie das Internet).
In dieser Hinsicht bietet Wikipedia eine interessante Alternative an. Hier können einander Unbekannte gemeinsam an einem Text arbeiten. Die sozialen Beziehungen zueinander werden erst im Verlaufe der Arbeit bestimmt. Dass dieser Prozess relativ unklar ist, bzw. sich zumindest nicht an etablierten Strukturen ausrichtet, sondern im Prinzip einen egalitären Ansatz verfolgt (die Schülergruppe von 15-jährigen ist genauso teilnahmeberechtigt wie gestandene Professorinnen und Professoren) trägt auch zur Verunsicherung bei, welche die Scientific Community beim Experiment Wikipedia beschleicht.
Dies ist eine soziale Konstruktion, keine technische. Denn Wikis können auch zur Erarbeitung von Texten dienen, an denen Personen beteiligt sind, die sich bekannt sind und deren Beziehung zueinander geklärt ist. Der Einfluss der Technik auf die Zusammenarbeit dürfte vergleichsweise klein sein und sich vor allem auf Effizienzsteigerung und Flexibilität beziehen.
Selbst die Aufzeichnung von Veränderungen gegenüber früheren Versionen mit Verweis auf die Autorschaft, die die Veränderung verantwortet, sowie die Archivierung aller früheren Versionen ist an sich nicht neues. Viele kennen diese Hilfsmittel vom verteilten Arbeiten mit Word-Dokumenten. Doch dass diese Aufzeichungen dem Wiki-System derart zugrunde liegen, dass das Wikipedia-Projekt mit dem Prinzip der Accountability überhaupt starten und sich entwickeln konnte, ist eine wichtige Differenzierung gegenüber früheren technischen Lösungen von Kollaborationshilfsmitteln, die entscheidenden Einfluss auf die Art der Kollaboration hat.
Literatur:
Ede, Lisa, Lunsford, Andrea: Singular texts/plural authors. Perspectives on collaborative writing, Carbondale: Southern Illinois University Press 1992
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