Ich lese gerade einen Artikel in Telepolis von Karin Wehn und Martin Welker mit dem Titel „Weisheit der Massen„, der (so mein erster Eindruck) leider die Chance vergibt, erhellende Aussagen über die Rolle des Wikipedia-Modells für wissenschaftliches Arbeiten zu liefern. Zum einen bleiben die Überlegungen an der (oft Wikipedia-Einträgen vorgeworfenen) Oberfläche allgemeiner Erkenntnisse, dadurch schleichen sich unpräzise Aussagen in die Argumentation ein, die zu falschen Schlüssen führt.
So wird der Artikel gleich eingeführt mit einem Zitat von Norbert Bolz aus einem Interview im Magazin Spiegel im Zusammenhang mit Wikipedia:
Da entsteht ein weltweites Laienwissen, das in Konkurrenz zum Expertenwissen tritt.
Wikipedia als „Laienwissen“ zu bezeichnen, zielt aber an der Realität vorbei und verstellt den Blick auf die eigentlichen Probleme dieses Ansatzes der Texterstellung. Es handelt sich um ehrenamtliches Wissen, das zuweilen auch von ausgewiesenen Experten stammen kann, bzw. kontrolliert wird (ausser man lässt nur Enzyklopädie-Fachredaktoren als Experten gelten). Gerade in den naturwissenschaftlichen Bereichen sind dem Laienwissen Grenzen gesetzt, es ist nicht die Regel, dass Hobby-Physiker versuchen, die Relativitätstheorie zu erklären. Viel aussagekräftiger ist die Frage nach der Selbstzuschreibungs-Möglichkeiten zu Wissenbereichen, bzw. den dazugehörigen gesellschaftlichen Legitimationen. In der Geschichte fühlen sich viele „nicht-akademische“ Historiker berufen, ihre Ansichten darzutun – dies ist aber nicht ein Phänomen, das allein bei Wikipedia auftritt. Die Ehrenamtlichkeit, also die Frage, mit wieviel unbezahlter Arbeit die Autor/innen jeweils in Wikipedia Einträge erstellen und bearbeiten können und vor allem – warum sie das tun, aufgrund welcher Motivation – wäre weitaus interessanter, als jene, ob hier Profis am Werk sind, deren Arbeit einem Produktionsplan folgt und von einer Herausgeberschaft kontrolliert wird.
Stattdessen steuern Wehn und Welker bei der Frage der Autoren in spekulatives Fahrwasser:
Leider sind die Motive derjenigen, die zu einem Artikel beitragen, unbekannt. Die Verfasser können im Negativfall politische oder kommerzielle Altruisten, Spaßvögel oder Vandalen sein. Manche Verfasser überschätzen ihre fachliche Kompetenz und liefern stattdessen Spekulationen, Gerüchte, Hörensagen oder unkorrekte Information. Freiwillige Beiträge repräsentieren in hohem Maße die Interessen und das Wissen einer selbsterwählten Gruppe von Mitwirkenden. Es gibt keine systematische Instanz (wie bei klassischen Enzyklopädien etwa ausgebildete Redakteure) und keinen systematischen Wissensorganisationsplan, der sicherstellt, dass offensichtlich wichtige Themen adäquat behandelt werden.
Hier reproduzieren Wehn und Welker nur gängige Klischees anstatt anhand präzis formulierter Hypothesen Fragen zu stellen und Möglichkeiten zu erwägen, wie Antworten darauf gefunden werden könnten. Es gibt (beispielsweise) Instanzen der Qualitätssicherung bei Wikipedia (Administratoren) – diese sind durchaus der Befragung würdig, doch dafür müsste man diese Instanzen einmal zu analysieren versuchen. Und die offensichtlich wichtigen Themen bedürfen wohl nicht eines systematischen Wissensorganisationsplanes, um ausgewählt zu werden – sonst wären sie ja eben nicht offensichtlich, sondern nur einem eingeweihten Kreis von Wissenden in ihrer Wichtigkeit ersichtlich.
Es folgt die Feststellung, dass Wikipedia gerne im wissenschaftlichen Alltag als Referenz genutzt wird, und Seminar- und Hausarbeiten von per Copy/Paste eingefügten Wikipedia-Artikeln strotzen. (Was hierbei ausgeblendet bleibt, ist der Umstand, dass die Nutzungsrechte an den Inhalten dank der General Public License von Wikipedia ganz anders gelagert sind als bei herkömmlichen Publikationen. Aber auch wenn Copy/Paste von Wikipedia-Wissen bei entsprechenden Nachweisen urheberrechtlich erlaubt ist, sagt dies noch nichts über die wissenschaftliche Redlichkeit aus). Wehn und Welker stellen die Frage, ob Wikipedia für die wissenschaftliche Nutzung etwas taugt – und verweisen darauf, dass Wikipedia-Gründer Jimmy Wales selber vom Zitieren aus Wikipedia abrät.
Dann folgt ein Vergleich von Wikipedia mit herkömmlichen Enzyklopädien. Welche Funktion Enzyklopädien als Gattung in der wissenschaftlichen Arbeit spielen können oder sollen (bzw. die Grundaussage, der auch Wales folgt, wonach Enzyklopädien ganz generell als Nachschlagewerke und nicht als zitierfähige Literatur gelten können, egal ob sie online oder gedruckt erscheinen, von einer Fachredaktion oder einer Community erstellt werden), beschäftigt Wehn und Welker nicht – sie interessieren sich nur dafür, ob Wikipedia „gleich gut“ wie herkömmliche Lexika sind.
Dabei kommen die gängigen Argumente: Die Artikel können zu jedem Zeitpunkt beliebig schlecht sein – Qualität ist nicht garantiert. Und vor allem Studienanfänger können dies noch nicht erkennen. Daher müsse die sach- und fachgerechte Nutzung von Wikipedia gelernt – und gelehrt werden.
Doch bei diesem (naheliegenden) Analyse-Ergebnis fallen einige Ungenauigkeiten auf. So behaupten Wehn und Welker:
Die Stärke von Wikipedia, das kollaborative Arbeiten an einem Gegenstand, ist streng wissenschaftlich gesehen eine Schwäche, da der Text eine Gemeinschaftsarbeit darstellt, oftmals keinem Autor eindeutig zuzuordnen ist und zudem meist nur einen Zwischenstand der Arbeiten darstellt.
Diese Aussage suggeriert, dass gemeinschaftlich erstellte Texte von mehr als einem Autor nicht wissenschaftlich seien (das würde auf eine ganze Reihe naturwissenschaftlicher Studien zutreffen – übrigens ist auch Text von Wehn und Welker eine Gemeinschaftsarbeit…), bzw. sie verwischt den Kernpunkt der Unwissenschaftlichkeit (der fehlenden Nachprüfbarkeit): dass anonymes und pseudonymes Mitarbeiten möglich ist – ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Wikipedia, weil dadurch die Hemmschwelle zur Beteiligung niedrig genug war, um die kritische Masse an Beteiligten für dieses Projekt zu generieren.
Die Problematik der ständigen Veränderungen der Artikel wird noch weiter problematisiert:
Zitierte Versionen eines Artikels können schon wenige Stunden später Korrekturen oder andere Verbesserungen enthalten; folgt man später dem Link des von einem wissenschaftlichen Autor rezipierten und zitierten Artikels, hat man damit die aktuellste Version verpasst.
Hier ist Wehn und Welker die schon länger existierende Möglichkeit in Wikipedia entgangen, auf Archiv-Versionen von Artikeln zu verweisen: jede Fassung eines Wikipedia-Beitrages hat eine eigene URL und somit kann sogar besser als bei anderen Verweisen auf Internet-Ressourcen genau jene Version nachgewiesen werden, mit der man gearbeitet hat. (Zur Präzisierung beachte die Kommentare am Ende dieses Eintrages).
Noch einmal an der Problematik vorbei argumentieren Wehn und Welker bei der Frage des wissenschaftlichen Anspruchs von Wikipedia-Beiträgen:
Insbesondere bei den Punkten Unvoreingenommenheit, Nachvollziehbarkeit, Nachprüfbarkeit und Quellentransparenz hapert es leider bei Wikipedia. Die Wikimedia-Stiftung ist sich dessen bewusst und versucht mit Anleitungen zum Schreiben eines guten Artikels oder mit Workshops, die Qualität im obigen Sinne zu verbessern. Da meist Laien die Wikipedia-Texte erstellt haben, ist der Alltagscharakter der Texte evident.
Zum einen wird hier der Gesamtheit der Wikipedia-Texte und Wikipedia-Autor/innen Laienhaftigkeit unterstellt. Hier täte etwas Differenzierung Not. Zum anderen wird unterschlagen, dass auch Einträge in herkömmlichen Enzyklopädien „Alltagscharakter“ haben: es geht ja oft eben darum, Laien (als Rezipienten) gewisse Sachverhalte (nicht immer wissenschaftliche notabene) zu vermitteln. Und schliesslich kann auch in herkömmlichen Enzyklopädien den Ansprüchen der Nachvollziehbarkeit, der Nachprüfbarkeit und der Quellentransparenz nicht immer in gleicher Weise nachgekommen werden, in der Regel aus Platzgründen. Hier haben die Leser/innen dem Herausgeber zu vertrauen. Online-Enzyklopädien, die sogar noch Kommentare und Diskussionen erlauben (und Ergänzungen) wären hier eigentlich im Vorteil.
Die Überlegungen von Wehn und Welker sind geprägt von der (nicht belegten) Vorstellung, dass es sich bei Wikipedia um ein „Laienprojekt“ handelt und dass sich dies aufgrund der Rahmenbedingungen des Projekts (gemeinschaftliches, anonymes Schreiben ohne Möglichkeiten, sich als Autor/in zu profilieren, also Verantwortung zu übernehmen und zugeschrieben zu erhalten) auch nicht ändern werde. Mit dieser Einstellung, so fürchte ich, kommt man dem Potential und der Bedeutung von Wikipedia nicht auf die Spur. Hierfür braucht es noch mehr untersuchungen des Phänomens Wikipedia, wie sie teilweise von Wehn und Welker zitiert wurden (Andreas Brändle, Viégas/Wattenberg/Dave), wie sie aber (dies ist auf Wikipedia selber dokumentiert) noch weit aus ausführlicher schon vorhanden und im Entstehen begriffen ist
Übersicht: Aus der Welt der Wikis