Internet-Autorität (wobei, was heisst das schon?) Jaron Lanier (Bio bei Wikipedia/Stanford University/Laniers Website) rechnet in seinem Essay „Digital Maoism“ ab mit dem Hype um den HiveMind, die Schwarmintelligenz, die ich hier (als „kollektive Intelligenz“) und hier (als „Weisheit der Vielen“) auch schon erwähnte und die immer wieder gerne zitiert wird im Zusammenhang mit allen möglichen Aspekten des „web 2.0“ und der Tätigkeiten der Internet-Communities.
Dabei plädiert Lanier für eine Kombination von kollektiver und individueller Intelligenz, die mit ihren jeweiligen Stärken ihre jeweiligen Schwächen auszugleichen vermögen. Genau genommen wehrt sich Lanier lediglich dagegen, der kollektiven Intelligenz eine alles lösende Macht zuzuschreiben und geisselt die Tendenz, mit dem Schlagwort von kollektiver Intelligenz Verantwortung zu vermeiden und den Wert des Individuums gering zu schätzen. Zugespitzt sieht er die Gefahr in der Vorstellung, das Internet selber werde durch die kollektive Intelligenz zu einem handelnden und denkenden Subjekt.
The beauty of the Internet is that it connects people. The value is in the other people. If we start to believe that the Internet itself is an entity that has something to say, we’re devaluing those people and making ourselves into idiots.
Nun führte es zu weit, den ur-amerikanischen Topos des „freien Individuums“ in seiner digitalen Ausprägung und sein Erscheinen in der Argumentation von Lanier genauer zu analysieren. Doch bleibt bei mir eine gewisse Skepsis bei seiner Kritik an der kollektiven Intelligenz bestehen, die ja nun wirklich nicht einfach „Die Intelligenz des Internets“, sondern durch das Zusammenwirken von Individuen entsteht.
Lanier wendet sich zwar nirgends explizit gegen Wikipedia, aber doch gegen die (seiner Ansicht nach) dahinter stehende Vorstellung davon, dass eine unpersönliche Gestalt namens „Kollektiv“ eine Enzyklopädie bauen und irgendwie auch automatisch für seine Qualität bürgen werde. Stattdessen brauche es Individuen, welche die Qualität kontrollierten. Nun, was ist Wikipedia anderes als eine Ansammlung von Individuen, die jeweils ihre Interessen verfolgen und darüber kommunizieren? Und was machen die Nutzer und Administratoren (alles Individuen) anderes, als Qualität beständig zu überprüfen? Die Rolle der Einzelnen in der Wikipedia wurde bereits mehrfach (und zwar auch von Gründer Jimmy Wales selbst) skizziert: Dass sich nur wenige tausend Autoren, die sich mit dem Projekt identifizieren, mit einer Grosszahl an „Edits“ (Bearbeitungen von Texten) an der Entwicklung der Wikipedia beteiligten (Link muss ich noch nachliefern, zitiert wird Wales von Swartz im folgenden Link). Zugespitzt: einige wenige schreiben und entwickeln die Artikel, die grosse Masse korrigiert vereinzelte Kommafehler. Aaron Swartz hat neuerdings genau die umgekehrte These vertreten, die noch stärker die Paradoxie von Kollektiv und Individuum beleuchtet (Who writes Wikipedia? – Deutsche Übersetzung von Tim Bartels in Wikipedistik). Swartz vermutet (nach der Analyse einiger Artikel), dass Aussenseiter (oft anonyme Sachexperten) einen Sachverhalt einmal grundsätzlich schreiben, und diese dann in vielen Einzelschritten von der „Kerngruppe“ geordnet, geglättet und strukturiert wird. Der Blog „Social Software“ erklärt das mit einem bekannten Modell: Autoren schreiben, Redaktoren überarbeiten. Ist das nun „Schwarmintelligenz“?
Letztlich geht es ja nicht um „Kollektiv“ und „Individuum“, sondern (meiner Ansicht nach) um Zufall gegen Planung und dann um Entscheidungs- und Gestaltungs-Macht. Wie die Debatte zwischen Exklusionisten und Inklusionisten zeigt, ist das Spannende (und zugleich Ärgerliche) an Wikipedia die Rolle des Zufalls bei der Auswahl und Gestaltung der Artikel. Die Exklusionisten wollen alle „seichten“ Einträge, die nicht in ein richtiges, akzeptiertes Lexikon mit kanonisiertem, wissenschaftlichen Wissen gehören, aus Wikipedia streichen. Aber zuweilen gehören gerade die Artikel über die so genannten Trivia zu den besseren (weil persönlicheren); zum anderen machen gerade diese Artikel den interessante Mix von Wikipedia aus. Es gibt keinen „Masterplan“, der top-down die Wissensinhalte strukturiert, sondern die Inhalte entstehen bottom-up und chaotisch – wie das Internet als Ganzes ja auch. Und wie ich das verstehe, ist gerade das chaotische Entstehen eines
Deshalb gibt es in Wikipedia die Möglichkeit, aufgrund eines Masterplans Inhalte oder Autor/innen ein- oder auszuschliessen. Es gibt Regeln dafür, aber vor allem beständige Aushandlungsprozesse, die auf flexible Kriterien hindeuten; bis hin zum Risiko der Willkür. Aber ist das Kollektivismus? Vielleicht verstehe ich auch Laniers Vorwurf nicht ganz (oder das Prinzip der Schwarmintelligenz oder beides). Jedenfalls diskutieren in den einzelnen Artikeln und zu den jeweiligen Fragen zur Gestaltung der Wikipedia sehr konkrete einzelne Individuen. (Allerdings – dies ist Stärke und Schwäche zugleich – können diese auch anonym bleiben). Problematisch wird dies dort, wo statt Konsens verkappte Mehrheitsentscheide „durchgedrückt“ werden – also derjenige oder diejenige Recht behält, der oder die den längeren Atem hat.
Kollektivistisch (um wieder auf diese Frage zurückzukommen) im Sinne der Schwarmintelligenz ist nach meiner Einschätzung die Annahme, dass früher oder später die Enzyklopädie als Ganzes durch wundersame Selbstheilkräfte von selbst auf ein akzeptables Niveau gelangen kann. Dies halte ich anders als Lanier nicht für naiv oder gefährlich, sondern einfach für wenig wahrscheinlich. Ich vermute, diese kollektive Intelligenz wird nicht spielen: Die Unterschiede werden bleiben (wenngleich vielleicht nicht so ausgeprägt) und sie sind stark von der zufälligen Konstellation abhängig, ob sich sachkompetente Individuen zusammenfinden, die ein Thema behandeln, das sich gut für enzyklopädische Abhandlung eignet, und sich auf einen Konsens bei der Darstellung des Themas einigen können. Gute Artikel leben vom Engagement von Menschen, die sich um diese guten Artikel kümmern – genauso lebt die Wikipedia vom Engagement einer Gruppe von Menschen, die sich (aus welchen Gründen auch immer) für diese Projekt einsetzen (siehe Aaron Swartz: Who runs Wikipedia? Ich habe mir die Frage auch schon gestellt, aber nicht so gut beantwortet.)
Und bei diesen Diskussionen geht es – natürlich – auch um Entscheidungsmacht. Diese ist bei Wikipedia (wie oft in solchen Community-basierten Projekten des web 2.0) nicht abgeleitet aus einer hierarchischen, auf (angenommener, oft auch behaupteter) Sachkompetenz beruhender Struktur (Abteilungs-, Forschungsleiter, Herausgeber, Lektor), sondern eher auf einer auf Engagement und Tätigkeitsausweis beruhender Meritokratie. Aber Konflikte wie jene von Bertrand Meyer, der noch vor wenigen Monaten Wikipedia lobte, und nun verzweifelt das Handtuch wirft, weil er sich mit seiner Auffassung eines Sachverhalts in einem spezifischen Artikel der Wikipedia nicht durchsetzen kann, gibt es auch in „Offline“-Situationen. Menschen haben verschiedene Ansichten, sie streiten darüber, am Schluss können sich gewisse Personen mit ihren Ansichten durchsetzen und – nein, auch in der Wissenschaft sind es nicht immer die wissenschaftlichen Argumente, die ausschlaggebend sind. In der Wikipedia wird der Konflikt immerhing transparent gemacht – er ist nachzulesen, jeder Interessierte kann sich selbst über den Gang der Argumentation ins Bild setzen. Ob das zum Verständnis des Konflikts bereits ausreicht, ist noch einmal eine andere Frage; ebenso, wer den Prozess überhautp analysieren will.
Jedenfalls scheint mir bei der Debatte um die „wissenschaftliche Gültigkeit“ von Wikipedia das Ergebnis (also die Inhalte) zu Unrecht mehr Beachtung zu finden als der Prozess, durch den die Inhalte entstehen und sich verändern. Hat nicht Jimmy Wales das Wiki-Prinzip treffend zusammengefasst
„The basic thing I think makes it work is turning from a model of permissions to a model of accountability. It isn’t that you are allowed or not allowed to edit a certain thing; it’s when you do it, that change is recorded, and if it’s bad, people can see that.“
Mir scheint, es fehlt noch die Gewohnheit im Umgang mit einem System, in dem ein Modell der „accountability“, also der Verantwortlichkeit im Detail, angewendet wird.
Was mich mehr beschäftigt bei der „kollektiven Intelligenz“ ist die Frage nach der „Aggregation“ bereits vorhandenen Wissens, wie es Wikipedia als Community-basiertes Enzyklopädie-Projekt in Reinkultur darstellt: was wird eigentlich „neu“ geschaffen? Und wer verdient mit dieser Aggregation sein Geld? Und was hat diese (neue?) „Kulturtechnik“ der Aggregation für Auswirkungen auf das wissenschaftliche Arbeiten: hier ist ja das Zusammentragen des Forschungsstandes (=aggregieren) gang und gäbe. Zutreffend bemerkt Lanier:
Accuracy in a text is not enough. A desirable text is more than a collection of accurate references. It is also an expression of personality.
Das gilt bei historischen Texten besonders, auch Rosenzweig hat auf diesen Mangel bei den kollaborativ erstellten Texten der Wikipedia hingewiesen.
Literatur